71. Frankfurter Buchmesse:"Politisch ist, was wir essen, wie wir leben, wie wir kommunizieren"

Frankfurt Book Fair 2019

Die "multikulturellen polnischen Tradition", zu der sie gehöre, sei nicht mehr allen bewusst. Olga Tokarczuk auf der Eröffnungspressekonferenz der Frankfurter Buchmesse.

(Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)
  • Als frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin spricht Olga Tokarczuk bei der Eröffnungspressekonferenz der 71. Frankfurter Buchmesse.
  • In Polen herrsche ein Kulturkrieg, sagt die Autorin: Die Versuche der Regierung, die Kontrolle über Museen und Theater zu bekommen, beunruhigen sie ebenso wie die freiwillige Selbstzensur mancher Kollegen aus Angst vor politischen Repressionen.
  • Auf der Frankfurter Buchmesse lässt sich immer auch die Stimmung der Verlagsbranche ablesen: Nach dem Schock aus dem Jahr 2018 gibt diese sich optimistisch.

Von Christoph Schröder, Frankfurt

Bielefeld ist ein Ort, um den sich diverse Trivialmythen ranken, allen voran der zu häufig bemühte Scherz, die Stadt existiere in Wahrheit gar nicht. Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk, der diese Geschichte nicht bekannt sein dürfte, befand sich nach eigenen Angaben auf einem Parkplatz zwischen Berlin und Bielefeld, "in einem namenlosen Zwischenraum", als sie die telefonische Nachricht erreichte, dass die Nobelpreisjury ihr den nachgereichten Literaturnobelpreis des Jahres 2018 zuerkannt habe. "Ich war fassungslos", so Tokarczuk, "in diesem Zustand erreichte ich Bielefeld."

Dort sollte die in Deutschland bislang eher als Geheimtipp gehandelte Autorin in der Stadtbibliothek ihren soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Roman "Die Jakobsbücher" vorstellen; stattdessen erwartete sie der Bürgermeister in vollem Ornat, inklusive goldener Amtskette.

Als frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin war Tokarczuk nun kurzfristig auf das Podium der Eröffnungspressekonferenz der 71. Frankfurter Buchmesse geladen worden, und naturgemäß konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Pressevertreter in erster Linie auf den Auftritt der 1962 geborenen Schriftstellerin und studierten Psychologin.

Darüber soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass zuvor Francis Gurry, Generaldirektor der World International Property Organisation, eine kurze, aber geschliffene und instruktive Rede hielt, in der er die Herausforderungen für das Urheberrecht im digitalen Wandel skizzierte. Daten, so Gurry, würden auch zukünftig in genau der Art und Weise genutzt, in der es eben möglich sei. Von Beschränkungen werde sich niemand aufhalten lassen, im Gegenteil: "Die Geschwindigkeit der technischen Veränderung ist so schnell, dass wir nicht in der Lage sind, ihr zu folgen." Gurry warf auch die Frage auf, inwieweit von künstlichen Intelligenzen unter Verwendung von Algorithmen erzeugte Texte urheberrechtlich relevant sein könnten. Anders ausgedrückt: Ist nur menschliche Autorschaft durch das Copyright geschützt?

"Polen ist aus einer Verflechtung unterschiedlichster Kulturen entstanden"

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hingegen formulierte in ihrem Beitrag weit konkretere Schwierigkeiten von Schriftstellern im Hinblick auf den digitalen Wandel: Schreiben sei ein langsames Gewerbe, das Zeit brauche, um die richtigen Worte zu finden. Unabhängig vom Medium glaube sie an eine Literatur, die Menschen bei allen äußerlichen Unterschieden wie Hautfarbe und sexuelle Orientierung miteinander verbinde. "Ich gehöre", so formulierte es Tokarczuk, "zu einer tief verwurzelten, multikulturellen polnischen Tradition, die vielleicht nicht mehr allen bewusst ist. Aber Polen ist aus einer Verflechtung unterschiedlichster Kulturen entstanden." Als eine ihrer Referenzgrößen nannte Tokarczuk den 1942 ermordeten jüdisch-galizischen Schriftsteller Bruno Schulz, "der die schönsten polnischen Sätze geschrieben hat."

Olga Tokarczuk hatte sich in der Vergangenheit immer wieder den Unmut der in Polen regierenden nationalkonservativen PiS-Partei zugezogen. Umso überraschender wirkte ihr Bekenntnis in Frankfurt, sie sei nur "im weitesten Sinne des Begriffs politisch: Politisch ist, was wir essen, wie wir leben, wie wir kommunizieren."

Die Verlagsbranche gibt sich nach dem Schock des Jahres 2018 optimistisch

Auf die Frage, ob das Ergebnis der Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag, bei der die PiS-Partei erneut die absolute Mehrheit in Polen erzielte, ihr Sorgen bereite, wurde Tokarczuk dann doch konkret: In Polen herrsche ein Kulturkrieg. Die Versuche der Regierung, die Kontrolle über Museen und Theater zu bekommen, beunruhigten sie ebenso wie die freiwillige Selbstzensur mancher Kollegen aus Angst vor politischen Repressionen.

Olga Tokarczuk richtete darüber hinaus eine demonstrative Grußadresse an Peter Handke, dessen Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 2019 auf heftige Kritik gestoßen war: "Ich möchte Peter Handke auf das Herzlichste gratulieren und die Überzeugung formulieren, dass wir den Boden unter den Füßen behalten werden."

Auf der Frankfurter Buchmesse lässt sich immer auch die Stimmung in der Verlagsbranche messen. Nach dem Schock des Jahres 2018, ausgelöst durch eine vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Auftrag gegebene Studie, nach der zwischen 2012 und 2017 sechs Millionen Buchkäufer verloren gegangen sind, schlug Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller optimistische Töne an: Die Nachfrage nach Sachbüchern sei 2018 um fünf, 2019 bislang sogar um knapp zehn Prozent gestiegen, so Riethmüller, der sein Vorsteher-Amt nach der Buchmesse turnusmäßig an die im Juni gewählte Mainzer Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs abgibt. Die Zahlen für die ersten drei Quartale des laufenden Jahres stimmen Riethmüller hoffnungsvoll: Gegenüber 2018 sind die Umsätze insgesamt um 2,5 Prozent angestiegen. "Es gelingt uns, uns in der wachsenden Medienkonkurrenz zu behaupten", so Riethmüller. Der Auftakt ließ anklingen: Die 71. dürfte eine politische und von Branchenoptimismus getragene Frankfurter Buchmesse werden.

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Fotos für die Literaturbeilage Frankfurt ET 15.10.2019

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