Süddeutsche Zeitung

Buchmesse:Die Farben des Regenbogens

Indonesien ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Eine Reise in ein Land, dessen Literatur gerade erst begonnen hat, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Von Paul Stänner

Geschichte begann mit einem großen ,G'. Zu ihr gehörten nicht die unbekannten Geschichten der normalen Menschen. Das war einer der Gründe, warum ich über diese Zeit schreiben wollte", sagt Laksmi Pamuntjak, während sie in ihrem Haus am südlichen Rand von Jakarta eine lange Tafel mit Tellern und Schüsseln vollstellt. In rasendem Tempo erklärt sie die einzelnen Gerichte, ihre Zubereitung und die Mischung der Gewürze aus zahllosen Zutaten. Als sie dann auch noch die Herkunftsorte der Speisen aus den unterschiedlichen Regionen des zwar sehr großen, aber mit 17 000 Inseln auch recht kleinteiligen Landes Indonesien erläutert, gibt man als Europäer bald auf. Und Laksmi Pamuntjak weiß, wovon sie spricht. Sie hat einen atlasgroßen Essführer durch die hohe und feine Küche Jakartas geschrieben. Wunderbare Fotos, ausführliche Berichte und entschiedene Urteile. Sie sagt, es gäbe in Jakarta etliche Köche, bei denen sie heute noch auf der Schwarzen Liste steht.

Pamuntjak, 1971 geboren, gehört zu einer Generation indonesischer Autorinnen und Autoren, die sich mit der Diktatur unter General Suharto auseinandersetzen. Unter seiner Regierung verschwanden Hunderttausende Oppositionelle - und dieser Begriff wurde sehr weit gefasst - in Gefangenenlagern und Folterzentren. Nachdem im Mai 1998, als Folge der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise, Suhartos Rücktritt durch eine Serie oft gewaltsamer Demonstrationen erzwungen wurde, geriet das Land in eine neue politische Epoche, die "Reformasi", Reform, genannt wird. Freie Wahlen und eine Liberalisierung des Medienrechts ließen ein geistiges Klima entstehen, in dem Fragen nach der Vergangenheit, wie sie Laksmi Pamuntjak oder auch die Autorin Leila Chudori stellen, möglich wurden. Ungefährlich ist es aber noch lange nicht.

Laksmi Pamuntjaks Roman "Alle Farben Rot" geht auf die Suche nach dem, was während der Suharto-Diktatur geschah. Amba, die Protagonistin, wird 1965 in einem Tumult von ihrem Geliebten Bishma getrennt. Bishma verschwindet in einem der Gefangenenlager von Suhartos "Neuer Ordnung". Im Frühjahr 2006 reist Amba, sechzig Jahre alt und verwitwet, auf die Molukkeninsel Buru, um nach den Spuren ihres Geliebten zu suchen.

Laksmi Pamuntjak stammt aus einer Intellektuellenfamilie - ihr Vater war Architekt, der in Berlin studiert hatte, ihre Mutter Apothekerin, in Großbritannien ausgebildet. Pamuntjak war talentiert und wurde gefördert, bis zum 21. Lebensjahr trat sie als Konzertpianistin auf, zwei Klaviere in ihrem Haus erinnern daran. Dann entschied sie sich für die Literatur, wurde Journalistin, Übersetzerin und Autorin. Von ihren Eltern hat sie eine multinationale Weltsicht geerbt. Heute pendelt sie zwischen Indonesien, den USA und Europa. Prägend waren ihre Eltern vor allem wegen ihrer kritischen Einstellung zur politischen Geschichte, der Geschichte mit dem großen "G".

Tradition und Moderne stehen sich hier in schmerzhafter Schroffheit gegenüber

Beim Essen erzählt Pamuntjak von ihrer Recherchereise auf die Gefangeneninsel Buru, den Schauplatz der Handlung. Buru liegt rund 2000 Kilometer von Jakarta entfernt und erschien somit als ein guter Platz, um Leute verschwinden zu lassen. Von den früheren Gebäuden ist kaum noch etwas zu erkennen, und doch ist Buru auch heute noch ein sensibler Ort: Pamuntjak wurde vor ihrer Rückreise sechs Stunden lang vom militärischen Geheimdienst verhört. Man wollte wissen, warum sie sich nach den alten Geschichten erkundigte.

Jetzt sei wahrscheinlich eine gute Zeit, die alte Geschichte aufzuarbeiten, sagt sie. Noch leben die Zeugen, einige hat sie befragt. Andererseits wisse ein großer Teil der heutigen Studenten schon nicht mehr, dass es 1965, den Putsch und die Diktatur gegeben hat.

Den literarischen Rahmen des Romans bildet das Epos "Mahabharata", das aus der hinduistischen Kultur stammt. Es ist ein gewaltiges Werk voll Intrigen, Blut und epischen Schlachten und einem so zahlreichen Personal, dass der Olymp der griechischen Götterwelt eine vergleichsweise überschaubare Nachbarschaft ist. Die Namen ihrer Protagonisten Amba und Bishma entstammen diesem Epos. In der indonesischen Kultur definiert der Name, den die Eltern ihrem Kind geben, seine Persönlichkeit und seinen Lebensweg. Was im Falle von Pamuntjak durchaus funktioniert hat - Laksmi ist der Name der indischen Göttin der Schönheit.

Der Weg zurück in die Innenstadt dauert ewig. Jakarta fährt auf drei Spuren fünfspurig. Zentimetergenau. Zwischen den Autos wimmelt eine Springflut von Rollern, Mopeds, Motorrädern. Die Bewohner haben die beneidenswerte urbane Kompetenz, mit ballerinenhafter Geschmeidigkeit unbeherrschbare Verkehrsströme berührungsfrei auszutänzeln. In einem supermodernen Einkaufszentrum wartet bereits Leila Chudori. Die Plaza Senayan ist das architektonische Icon dafür, dass das Land in der Moderne angekommen ist. Sein Wahrzeichen ist eine riesige Uhr - nirgendwo sonst in Jakarta gibt es öffentliche Uhren, nur hier, wo Elektronik, Möbel, Kleidung verkauft werden.

Aber auch in diesem Hightech-Ambiente werden traditionelle Speisen serviert. In Indonesien, sagt Chudori, dreht sich viel ums Essen, Essen ist soziales Leben. Ihre Mutter brauche allein für das Curry mehr als zwanzig Beimischungen. Chudoris Roman "Pulang (Heimkehr nach Jakarta)" beschreibt das Exil von Indonesiern, die nach der Machtübernahme von Suharto im Ausland gestrandet oder ins Exil gegangen waren. Die Helden ihres Buches leben in Paris, müssen sich irgendwie über Wasser halten und eröffnen ein indonesisches Restaurant. Chudori hat die lebenden Vorbilder ihrer Figuren getroffen und sie gefragt, ob sie überhaupt kochen konnten. Nein, war die Antwort, aber damals hätten die Franzosen noch nicht gewusst, wie indonesisches Essen wirklich schmeckt.

Chudori spinnt ihre Erzählung (auch hier taucht das Mahabharata wieder auf) über zwei Generationen - die der heimwehgeplagten Exilanten und die ihrer Kinder. Lintang, die Tochter des Protagonisten aus einer indonesisch-französischen Ehe, reist 1998 nach Jakarta und gerät in die Studentenunruhen, die zum Sturz der Diktatur führten. Auch ihr Leben wird auf den Kopf gestellt, die Geschichte hat einen langen Atem.

Chudori, Drehbuchautorin und Journalistin für das Nachrichtenmagazin Tempo, steckt zwischen zwei Terminen. Außerdem wartet sie auf ihre Tochter, die irgendwo in der Mall unterwegs ist. Sie verfügt über die verblüffende Fähigkeit, mit der Gabel in allen Schüsseln unterwegs zu sein, während sie unermüdlich erzählt, zum Beispiel, dass noch immer jeden Donnerstagmorgen Mütter vor dem Präsidentenpalast stehen und nach dem Schicksal ihrer Kinder fragen, die 1998 verschwunden sind. Auch heute sei für die Ereignisse der Jahre '65ff noch immer die offizielle Darstellung der Regierung maßgeblich, aber: "Ich finde, wir müssen wissen, was wirklich vorgefallen ist. Nicht um herauszufinden, wer Fehler gemacht hat, sondern um die verhaltenspsychologischen Probleme des indonesischen Volkes zu verstehen, die aus dieser Geschichte entstanden sind."

Natürlich hat auch sie die wahren Ereignisse recherchiert, hat in Paris die Schauplätze aufgesucht. Es gibt Sachbücher und Erinnerungsbände über diese Zeit, aber das reichte ihr nicht. Sie wollte die Geschichte in einem Roman erzählen, es ist ihr erster geworden. Für das Geschichtenerzählen gebe es drei Säulen: erstens die Sprache (ihr Indonesisch wird als hochartistisch gerühmt), zweitens müsse man selbst ein guter, gebildeter Leser sein. Das Dritte ist Leidenschaft.

Die Tochter taucht auf, im Schlepptau hat sie ihren Freund. Beide sind etwas über zwanzig und tragen Punk-Camouflage. In der Szene von Berlin-Mitte könnten sie spurlos untertauchen. Sie grüßen kurz und verschwinden wieder - zu viele alte Leute, erklärt die Mutter. Mit ihrer Tochter zusammen schreibt sie ein Buch, wobei sie selbst den Blickwinkel eines 15-jährigen Teenagers einzunehmen versuche, der von zu Hause ausreißt. Die Tochter schreibt wiederum aus der Sicht der Mutter. Und geht sie hart an: Was sie über das Essen schreibe, sei ja okay. Aber die Musik! Die Sprache der Jugendlichen!

Und dann erzählt Leila Chudori noch von einer kreativen Form des Umgangs mit Literatur: In ihrem Roman hat sie die Gerichte, die ihre Exilanten in Paris auf die Speisekarte setzten, nur andeutungsweise beschrieben. Die Food-Journalistin Petty Elliott hat aus diesen Andeutungen 42 komplette Rezepte entwickelt und in einem Kochbuch gesammelt - so ist die Fiktion wieder in die Realität zurückgekehrt.

Eine der großen Figuren der indonesischen Literaturszene ist Goenawan Mohamad, der frühere Herausgeber des Magazins Tempo und Lyriker. Er wird gern als eine Mischung aus Rudolf Augstein und Hans Magnus Enzensberger beschrieben. Goenawan Mohamad macht sich nicht allzu große Illusionen, dass das Literaturland Indonesien nach seinem Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse dem deutschen Publikum in Erinnerung bleiben werde. Aber er hofft, dass die internationale Aufmerksamkeit seine Landsleute darauf bringen könnte, sich ihrer Literatur zuzuwenden, die natürlich in Konkurrenz stehe zum Fernsehen und zur DVD. Vielleicht lesen etwa zehn Prozent der Indonesier, was nicht nur mit der eben überwundenen Diktatur, sondern auch mit den Traditionen zu tun hat: Indonesien pflegte eher eine Vortrags- als eine Lesekultur. Aber auch öffentliche Gedichtlesungen, von denen der immer fröhlich kichernde Brecht-Enthusiast Agus R. Sarjono berichtet, gibt es nicht mehr so oft.

Im Hotel in Yogyakarta, der alten Universitätsstadt in Zentraljava, liegt auf einer Schachtel ein laminierter Zettel: "Um das Geräusch des frühmorgendlichen Gebets zu verringern, schlagen wir vor, Sie benutzen die Ohrstöpsel in dieser Schachtel." Es nützt nichts. Um fünf Uhr ist die Nacht zu Ende. Nacheinander eröffnen die Lautsprecher aus drei Moscheen das Frühgebet. Nach landesüblicher Kultur sind die Regler voll aufgedreht. Egal, welcher der sechs staatlich anerkannten Religionen man angehört, von fünf bis sechs Uhr morgens werden alle Bewohner des Viertels aus den Lautsprechern der konkurrierenden Moscheen geweckt, beschallt und daran erinnert, wer hier das Sagen hat. Ahmad Tohari, ein schmaler, ältere Herr, wird begleitet von Sohn und Schwiegersohn, die ihm gelegentlich mit englischen Vokabeln aushelfen. Vor dem Gespräch lässt er sich seine lederne Kappe reichen, die schon reichlich Patina angesetzt hat. Nun ist er bereit.

Tohari wurde in den Achtzigerjahren berühmt durch eine Trilogie aus dem Dorfleben Mitteljavas, die ihn zum führenden Romancier seines Landes machte. Tohari schildert dort das manchmal bizarre, aber faszinierende Panorama eines fast archaischen Dorflebens. "Die Tänzerin von Dukuh Paruk" lautet der Titel des ersten Teils, der auch das Thema vorgibt: Ein junges Mädchen wird zur "Ronggeng" erzogen, zur Tänzerin der althergebrachten Fruchtbarkeitstänze. Damit verbunden ist ihr Weg in die Prostitution.

Tohari, der aus einer wohlhabenden Familie eines kleinen Dorfes stammt, erzählt, dass in seiner Jugend diese Fruchtbarkeitstänze noch ausgeübt wurden, dass sie aber nach dem "Putsch" 1965 durch eine islamische Bewegung abgeschafft worden sind. Tohari selbst stammt aus einer islamischen Familie. Als er mit 28 Jahren seinen provozierenden Roman veröffentlichte, wurde er von seinem Vater gefragt, warum er als Sohn eines moslemischen Führers solch ein Buch über diese unreine, aus dem Hinduismus stammende Tradition schreibe. Tohari antwortete, wenn alle Dinge im Himmel und auf Erden Gott gehörten, dann gehöre ihm auch der Ronggeng, der Fruchtbarkeitstanz und die dazugehörige Prostitution.

Tohari geht es nicht um die Verteidigung religiös verbrämter Prostitution, sondern um die alten Traditionen, die in dem rasanten Modernisierungsprozess des Landes unter die Räder geraten sind. Als er sein erstes Buch schrieb, habe er nur drei oder vier Hemden und ein Fahrrad besessen. Natürlich wünscht er sich nicht die damalige Armut zurück, natürlich will auch er Erziehung und Ausbildung, aber eben nicht den kulturellen Verlust. Er gibt eine Zeitschrift heraus, die in einer der lokalen Sprachen gehalten ist, um diese vor dem Vergessen zu bewahren.

Tohari, der oft über religiöse Themen schreibt, vertritt einen traditionell javanischen, gemäßigten Islam, sein jüngerer Bruder leitet eine Islamschule. Sein Denken ist liberal, sein Glaube friedlich, das zu betonen liegt ihm am Herzen. Andererseits soll es seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine fundamentalistische Richtung des Islam in der Region Aceh geben, und es erscheint, als sei sie aktuell auf dem Vormarsch. Der Alkoholverkauf in Jakarta ist auf Schwarzmarktniveau eingeschränkt, es soll Versuche gegeben haben, die Bikinis auf Bali zu verbieten, in den Schulen werden die sozialwissenschaftlichen Inhalte zugunsten der Lehren des Islam eingeschränkt. Nach dieser Entwicklung gefragt, sagt Tohari fast ein wenig hilflos, man müsse schauen, woher das Geld für diese Missionierung komme. Westliche Beobachter sind da deutlicher: Arabisches Geld sei im Spiel, arabische Modelle, arabisches Verständnis von gesellschaftlichen Freiheiten.

Von Jakarta aus fliegt man eine Stunde nach Süden und ist auf Bali, der Touristenmetropole. Oder man fliegt 45 Minuten nach Norden und landet auf Belitung. Von dieser Insel stammte einmal die Hälfte des Zink-Vorkommens auf dem Weltmarkt. 1986 begann der Niedergang der Ökonomie der kleinen Insel, bis der "Hirata-Effekt" einsetzte. Der Hirata-Effekt ist schon von Weitem auf einem kleinen Sandhügel zu sehen. Davor liegt ein Parkplatz mit Bussen und einem Kiosk für Erfrischungen. Auf dem Hügel steht ein Holzschuppen aus massiven Trägern und aufgenagelten Brettern, eines übers andere auf Lücke gesetzt, sodass der Wind hindurchpfeifen und die Hitze herausdrücken kann. Drinnen ein Tisch, eine Tafel, Pulte für die Kleinen.

Die Bretterbude ist der Nachbau der längst verschwundenen Schule, die Andrea Hirata besucht und in seinem Weltbestseller "Die Regenbogentruppe" beschrieben hat. Die Replik wurde für den Film aufgestellt und ist seitdem ein Publikumsmagnet. Busseweise fahren Touristen zu diesem Platz, als stünde hier nicht eine banale Filmkulisse, sondern als sei es der Geburtsort eines Heiligen.

Hirata, gelernter Ökonom, der jahrelang für die Telefongesellschaft auf Belitung gearbeitet und erst vor drei Jahren gekündigt hat, wird später erzählen, dass durch seinen in 35 Sprachen übersetzten Bestseller die Tourismusquote um 1800 Prozent gestiegen sei. Busse stehen auch in seinem kleinen Heimatdorf. Die Straße ist dafür nicht ausgelegt, also verstopft. Hirata hat ein kleines Literaturmuseum eingerichtet, das erste Literaturmuseum Indonesiens. Wenn man es genau nimmt, ist das Literaturmuseum ein Hirata-Museum; an den Wänden hängen Plakate der Übersetzungen und der Verfilmung.

Immer wieder taucht der Schriftzug auf: Do I inspire you? - ob dieses "Inspiriere ich dich?" sein Motto sei. Hirata, immer mit der schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf, die er zum Denken und zum Schreiben braucht, sagt: "Ich glaube, nur arme Leute können arme Leute verstehen. Wir haben nichts als Träume, also brauchen wir Inspiration." In der "Regenbogentruppe" hat seine persönliche Inspiration die Gestalt einer Lehrerin, die ihm, dem Sohn eines Minenarbeiters, das Träumen beibrachte. Seine Träume machten aus Hirata (mehrere Stipendien und Studienaufenthalte im Ausland später) einen Weltschriftsteller und einen reichen Mann noch dazu. Man trifft jedoch nicht viele reiche Männer, die so nett sind wie er.

Vor dem Gespräch mit Hirata geht es zu der Schule, die er im Garten seines Museums aufgebaut hat. Hier unterrichtet er - zusätzlich zur normalen Schule - Kinder seines Dorfes. Ein Mädchen, vielleicht neun Jahre alt, arbeitet sich mühsam, aber entschlossen durch einen englischen Text. Hirata steht hinter ihr und hilft gelegentlich, wenn sich die Aussprache zu weit vom Original entfernt. Der Schulunterricht ist eher mangelhaft, auf dem Land sind die Schulen häufig religiös gebunden. Kritisches Denken wird hier nicht gelehrt.

An der Rückwand des Klassenzimmers warten Touristen, begierig darauf, dass endlich der Unterricht zu Ende geht und sie sich auf ihr Idol stürzen können. Hirata wird vor die Schule gedrängt, jeder will mit ihm fotografiert werden, Frauen kreischen begeistert, wenn er seinen Namen auf ein T-Shirt schreibt. Hirata lächelt über den Rummel um seine Person, bleibt geduldig; vermutlich genießt er den Ruhm auch ein wenig. Lächelnd stellt sich erneut zu einem Selfie mit Fans auf.

Um das Publikum zu erreichen, zu finden, muss die Literatur auch ungewöhnliche Wege gehen

Seine "Mission" sei es, inspirierende Romane zu schreiben, sagt Andrea Hirata. Er will seinen Lesern zeigen, woher er kommt - tatsächlich spielen alle seine zehn Romane auf Belitung. Und dann will er ihnen zeigen, was er erreicht hat. Und den Kindern, die in Armut leben, will er deutlich machen: Ich bin einer von euch, und ihr könnt noch mehr erreichen als ich. Seine internationale Reputation nutzt der Schriftsteller, um bei der Regierung auf bessere Schulen zu drängen. Na ja, und den Literaturnobelpreis hätte er auch gern - sagt er und bricht in schallendes Gelächter aus.

Indonesier sind unglaublich höflich. Sie halten beständig Augenkontakt. Sie lächeln. Wenn ein Beamter einem den Pass zurückgibt, tut er dies mit beiden Händen, als würde er eine wichtige Auszeichnung überreichen. Die Menschen auf der Straße sind immer bereit, Auskünfte zu erteilen, Wege zu erklären oder Informationen zu beschaffen (auch wenn man besser noch eine zweite Quelle zu Rate zieht).

Unbegrenzte Freundlichkeit scheint im Erbgut der Indonesier verankert zu sein. Dave, der in Yogyakarta ein Resort aufbaut, wenn er nicht gerade als desaster manager für die UN Flüchtlingslager organisiert, erklärt die Triade der indonesischen Wutabfuhr. Erstens: Niemals in der Öffentlichkeit! Zweitens: Wenn, dann zu Hause bei Frau und Kind! Und drittens müsse man sich klarmachen, dass das Wort "Amok" aus dem Indonesischen stamme.

Zurück im Moloch Jakarta, ein Termin bei Denny J. A., wie er sich nennt. Denny ist eine Medienpersönlichkeit, ein Fernseh-Moderator, ein Mann, der durch Meinungsforschung und Politikberatung zu Geld gekommen ist. Das Treffen findet in einem seiner Restaurants statt, einem angesagten Lokal mit exotischer Anmutung, denn es handelt sich um eine Pizzeria. Dennys Erscheinen ist ein Auftritt, er beherrscht den Raum, ein Kamerateam dokumentiert das Gespräch.

In der literarischen Welt ist Denny J. A. umstritten, weil er nah an den Herrschenden und weil er als Schriftsteller Amateur ist - mit einer eigenen Agenda. Seine Erfindung ist das Essay-Gedicht, ein Langgedicht, das sich mit gesellschaftlichen Missständen beschäftigt. Aber Denny wäre nicht die Medienperson, die er ist, wenn es ihm um wolkige oder hermetische Lyrik ginge. In seinem Konzept gehören zum Essay-Gedicht die Fakten zum Erzählten, in Fußnoten werden die entsprechenden Informationen sowie deren Quellenangaben eingefügt. Damit nicht genug: Bei der Weltpremiere wird "Das Taschentuch der Fang Yin" als gedrucktes Gedicht, als graphic novel mit mangahafter Bildsprache und als Animationsfilm präsentiert. Eine Straßentheaterversion soll es auch noch geben.

Das Gedicht erzählt die Geschichte der Fang Yin, einer jungen Frau aus der chinesischen Minderheit, die während der Unruhen im Mai 1998 von einem barbarischen Mob vergewaltigt wurde. Tief verletzt musste sie ihr Land verlassen. Der Freund und die Heimat waren ihr genommen, und erst nach einem langen Heilungsprozess in Amerika schafft sie es zurückzukehren: "Indonesien soll sein wie sie selbst: Sieger über die Vergangenheit", heißt es im Buch.

Denny J. A. erklärt, dass er sich als politischer Aktivist versteht. Indonesien sei ein freies Land, aber in der breiten Bevölkerung gebe es immer noch eine radikale Haltung gegenüber religiösen oder sexuellen Minderheiten. Und eine durch die Religion angeheizte Fanatisierung. Mit seinen Gedichten will er nicht nur die Herzen der Menschen erreichen, sondern ihnen auch die nötigen Hintergrund-Informationen zum Thema liefern.

Das klingt ein wenig nach einem pädagogischem Aufbau-Realismus in sozialistischer Tradition, aber die Idee, ein wichtiges gesellschaftliches Thema durch alle massenwirksamen Medien zu deklinieren, um möglichst viele zu erreichen, ist immerhin ein origineller Ansatz in einem Land, in dem das Bildungssystem nicht allen offen steht. Dafür setzt Denny J. A. viel Geld ein. Noch immer befindet sich Indonesien in der Periode der "Reformasi".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2669816
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.09.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.