Süddeutsche Zeitung

Buchmesse:Das Plötzliche

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Der Suhrkamp-Empfang ist traditionell der Treffpunkt der literarischen Republik. Der Verlag ist wieder obenauf - wegen der unsichtbaren Elena Ferrante, und weil der alte Rebell Karl Heinz Bohrer las.

Von Johan Schloemann

Elena Ferrante war verhindert. Auch die Frau, die sich Jahre hinter diesem Namen verstecken konnte, ist nicht zur Buchmesse gekommen. Aber der Geist des internationalen Bestsellers aus Italien schwebte wie ein Segen über allem.

Es war wieder Empfang bei Suhrkamp in der Frankfurter Klettenbergstraße, dem früheren Sitz des Verlages, der nach Berlin gezogen ist. Die körperlich recht enge Zusammenkunft ist traditionell das Hochamt des gehobenen Literaturbetriebes. Suhrkamp macht nach wie vor jede Menge aparte und kluge Bücher, war aber auch eine Zeit lang von bitteren, epischen Kämpfen um Macht und Anteile gebeutelt. Inzwischen ist wieder Ruhe im Karton, Jonathan Landgrebe ist als Chef unbestritten, doch es blieben besorgte Fragen: Ob sich denn der Verlag sein anspruchsvolles Programm noch leisten könne? Wo es auch nicht mehr als so sexy gilt wie früher, mit einem Suhrkampbändchen im Café zu sitzen? Ist Suhrkamp womöglich kein geistiges Zentrum der Republik mehr?

Jetzt ist er aber mal wieder da, der langersehnte Bestseller, mit dem man allerlei Besonderes im Verlag querfinanzieren kann. Durch eine Verkettung glücklicher Umstände ist die Elena-Ferrante-Saga bei Suhrkamp gelandet. Bisher ist der erste von vier Bänden auf Deutsch erschienen, die Verkäufe liegen schon über einer Viertelmillion Exemplaren. Also konnte man dieses Jahr auch wieder viel entspannter Wein trinken und ein paar intellektuelle Spezialitäten verdauen: Zur ebenfalls traditionellen Vorab-Lesung aus einem unveröffentlichten Werk hatte man - nach Peter Sloterdijks Sex-Papers im vergangenen Jahr - Karl Heinz Bohrer geladen.

Bohrer, 84 Jahre alt, war FAZ-Literaturchef, Merkur-Herausgeber und Literaturprofessor und hat unermüdlich gegen einen aus seiner Sicht kleinbürgerlichen Weltverbesserungsgeist in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit angekämpft. Und nun ist auch Bohrer bei Suhrkamp gelandet, wo früher nur ein paar akademischere Schriften wie "Die Kritik der Romantik" von ihm publiziert wurden. Nach seinen Kindheitserinnerungen "Granatsplitter", die vor vier Jahren noch bei Hanser erschienen, wird nächstes Jahr eine Fortsetzung unter dem Titel "Jetzt" herauskommen: ein offenbar recht voluminöses "Memoir", wie Literaturkritiker das gerade gerne nennen, ein Lebens- und Gedankenjournal, das von jener fernen alten Bundesrepublik bis in jüngere Zeit reichen soll.

Bohrers Buch dürfte vielen Freude machen, die sich für Intellektuellen-Gossip aus möglicherweise heroischeren Zeiten interessieren. Die Zahl derer, die wissen wollen, wie genau es seinerzeit bei Jürgen Habermas' sechzigstem Geburtstag zuging, darf nicht unterschätzt werden. Aber warum heißt das Buch dann "Jetzt"? Das wurde schon bei der Passage, die der Autor für die sneak preview ausgewählt hatte, überdeutlich: Karl Heinz Bohrer ist nämlich schon lange von der Idee besessen, dass keiner Literatur und Politik richtig verstehe, der nicht die ästhetische Bedeutung von Epiphanie und Ereignis verspüre. Deswegen besingt er in praktisch allen seinen Büchern "das Plötzliche", wodurch dieses an überraschender Plötzlichkeit nicht gewinnt. So las Bohrer jetzt auch aus seinen Erinnerungen vor, was ihn als Nicht-Linken einst an der Französischen Revolution faszinierte, gerade an den brutaleren Aspekten: "der Momentanismus", "die schiere Ereignisform", "die Kurzangebundenheit", immer wieder "das Plötzliche". Als eigensinnige Performance machte das durchaus Spaß. Dann schritt man zum Intellektuellenklatsch der Jetztzeit, kriegt - epiphanisches Präsens - Linsensuppe mit Würstchen, bis alles in schierer Plötzlichkeit verschwindet, zur Rowohlt-Messeparty. Ein wundervolles Ritual.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2016
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