Buchmesse:Als seien keine Frauen im Saal

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Spieglein, Spieglein an der Wand: Herausgeber Gerhard Schuster am Pult (links) und Antiquar Heribert Tenschert in der ersten Reihe. (Foto: Regina Schmeken)
  • Im Rowohlt-Verlag erscheint "Weltpuff Berlin", ein detailliertes Kompendium ausschweifender sexueller Fantasien, das Borchardt während der 1930er-Jahre geschrieben hat.
  • Der Verlag stellt den Band auf der Frankfurter Buchmesse als pornografisches Monumental- und Meisterwerk der deutschen Geistesgeschichte vor.
  • In der Präsentation wirkten aktuelle Diskussionen über den männlichen Blick auf Frauen, die unterschiedlichen Bewertungen von Freiwilligkeit in der Liebe und der Prostitution wie nie geschehen.

Von Marie Schmidt

Ein Geheimnis sollte gelüftet werden. Eben war der Rowohlt-Verlag ins Gerede geraten, als seine Verlegerin Barbara Laugwitz ihren Posten räumen musste, unter Umständen, die rigoros geheim gehalten wurden. Da kam die Einladung, mit dem Verlag und "einigen Überraschungsgästen das Erscheinen eines Romans ohne Namen zu feiern", am ersten Abend der Buchmesse im Hotel Frankfurter Hof. Von einem Geheimnis mit der Enthüllung eines größeren abzulenken, könnte man für einen Schachzug halten.

Der lockte aber nur eine kleine Menge Informierter. Darunter der neue Rowohlt-Verleger Florian Illies, der im Januar sein Amt antritt, der Schriftsteller Alexander Schimmelbusch und der Autor und Schauspieler Hanns Zischler. Man nahm vor einem feierlich aufgepflanzten Band Platz, dessen Name dann gleich kein Geheimnis mehr war: "Weltpuff Berlin".

Man habe immer gedacht, sagte Alexander Fest, Editor-at-large bei Rowohlt, zur Begrüßung, die deutsche Literatur habe keinen großen pornografischen Roman, keinen de Sade, D. H. Lawrence, Henry Miller. Und jetzt das: Das pornografische Monumental- und Meisterwerk der deutschen Geistesgeschichte ist entdeckt worden. Es stammt aus den 1930er-Jahren, geschrieben wurde es von Rudolf Borchardt. Ausgerechnet. Oder wie Kenner sagen würden: Von wem denn sonst?

Borchardt ist derjenige unter den großen Autoren des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der vielleicht am wenigsten Leser hat. Die aber halten alles von ihm und trauen ihm alles zu. Das spiegelt innig Borchardts eigene Haltung wider, ein strenges Formbewusstsein in Sprache und Selbstinszenierung, einen totalen humanistischen Bildungsanspruch, den er der Bewahrung alteuropäischer und der Pflege deutscher Tradition widmete. Aus jüdischer Familie stammend konnte Borchardt allerdings in den Dreißigerjahren in Deutschland und Österreich nicht mehr publizieren. Er lebte seit 1903 in der Toskana und füllte dort 1938/39, wie nun also bekannt wird, 300 Seiten in winziger Kleinschrift mit expliziten Inhalten.

Die Aficionados wussten, dass sie diese erotischen Fantasien der Welt nicht vorenthalten konnten

Die sogenannten Überraschungsgäste der Buchpräsentation waren die zwei weltweit größten Borchardt-Aficionados: Gerhard Schuster, der seit mehr als drei Jahrzehnten Borchardts Nachlass sortiert und ediert, und Heribert Tenschert, Antiquar und Händler wertvoller Bücher, der nicht nur seinem Freund Martin Walser zum 90. Geburtstag eine Gesamtausgabe schenkte, sondern auch eine Gesamtausgabe der Werke Rudolf Borchardts vollumfänglich finanziert. Sie erscheint bisher in der "Edition Tenschert" im Hanser Verlag, die große, von Schuster kommentierte Ausgabe des "Weltpuffs" nun aber bei Rowohlt.

Als Schuster das Manuskript 2011 im Literaturarchiv Marbach im Nachlass Borchardts entdeckte, wussten die Aficionados, dass sie diese erotischen Fantasien der Welt nicht vorenthalten konnten. Die editorische Arbeit war schon weit fortgeschritten, als der letzte lebende Sohn Borchardts, Cornelius Borchardt, sich gegen die Veröffentlichung aussprach. Siebzig Jahre nach dem Tod des Autors 1945 wurde das Werk aber gemeinfrei. Nun also liegen vor: Eine Leseversion sowie, als Teil der Gesamtausgabe, eine textkritische Edition plus Kommentarband in granatorangem Leinen und Schmuckschuber.

Serialität sexueller Ereignisse mit grotesken Zügen: Rudolf Borchardt. (Foto: KEYSTONE)

Über die Umstände der Herausgabe und Textgestalt sollte im "Frankfurter Hof" gesprochen werden. Vorgelesen wurde nichts aus dem "Weltpuff", was vielleicht keine ganz souveräne Idee war, weil die Paraphrase pornografischer Geschichten leicht in etwas schlüpfrig Spitzmündiges abgleitet. Es handle sich um einen deftigen Reigen, sagte Schuster zur Einführung, es bleibe "nicht nur kein Auge trocken". Ijoma Mangold, Literaturkritiker der Zeit, der geladen war, Heribert Tenschert coram publico zu interviewen, beschrieb die anatomische Explizitheit der Schilderungen näher. Die Serialität der sexuellen Ereignisse habe deutlich groteske Züge, hieß es. Die schiere Frequenz der Akte sei nur machbar, indem die beteiligten Frauen jeweils noch schneller "wollen" als der Erzähler, der hier unter dem Namen des Autors, respektive "Rudi" auftritt.

Über Frauen wird hier in einem Ton gesprochen, als seien keine im Saal

Worüber kaum gesprochen wurde, war, was der Titel "Weltpuff" anzeigt: dass das schnelle Wollen der Frauen in Borchardts Schilderungen handfeste ökonomische Bedingungen gehabt haben mag. Über den mehr als 800 Seiten langen Text der Edition können wir uns noch kein Urteil bilden, aber schon ein erster Blick in das verteilte Leseheft fällt auf den Satz: "Ich legte einen Hundertmarkschein auf ein Tischchen im Gefühl schmieren zu müssen. Die Dame strahlte diskret." Da gibt der Erzähler noch "drei Zwanzig Markstücke" drauf und bekommt: "Ausnahmslos bildhübsche, frische und junge Wesen, in nichts von anderen unterschieden harmlos und lustig, freimütig und naiv." Die soziologische Genauigkeit, die dem Pornografen Borchardt attestiert wurde, müsste auch die Machtverhältnisse umfassen, in denen sich das Verfügen über Geld mit der Verfügbarkeit von Körpern verbindet.

Die Herren, die im "Frankfurter Hof" ihre Entdeckung eines Pornos feierten, hielten sich mit solchen Fragen indes nicht auf. Wie überhaupt alles völlig abwesend und wie nie geschehen war, was seit Längerem und auch aktuell diskutiert wird, über den männlichen Blick auf Frauen, die unterschiedlichen Bewertungen von Freiwilligkeit in der Liebe und der Prostitution, die Frage, mit der ja neuerdings mit spitzen Fingern in Nabokovs "Lolita" geblättert wird, was man heute und in Zeiten von "Me Too" überhaupt noch über Sex lesen wolle. Der "Weltpuff" sagte Gerhard Schuster zu Beginn, habe durchaus "frauenfreundliche Seiten", und wer ihn verschenke, "muss damit rechnen, dass unsere Freundinnen ganz neue Intensitäten einfordern". Es passiert einem in letzter Zeit gar nicht mehr so oft, dass man erlebt, wie über Frauen in einem Ton gesprochen wird, als seien keine im Saal.

Keinesfalls darf man sich natürlich den Fehler erlauben, solche Stilprobleme dem im Januar 1945 verstorbenen Rudolf Borchardt anzulasten. Dessen "Weltpuff" wird im Kontext seiner Zeit und Ästhetik hoch interessant zu lesen sein. Die Geheimnis-Sause des Rowohlt-Verlags machte indes einen bizarr aus der Zeit gefallenen Eindruck. Aber vielleicht ist es andererseits gerade charakteristisch für die Gegenwart, dass man in der Blase eines Spezialinteresses fabelhafte Mengen von Bedeutung produzieren kann, um sich damit selbstbewusst, um nicht zu sagen breitbeinig, schräg zum Zeitgeist zu stellen.

© SZ vom 12.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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