Süddeutsche Zeitung

Norwegische Literatur:Grand Café Europa

Vom Schocker zum Edelrestauranthocker: Matias Faldbakken erzählt in "The Hills" von bröckelnden Gewissheiten aus der Sicht eines Kellners. Ein Besuch im Atelier des Autors in Oslo.

Von Christine Dössel

Von wegen Rabauke! Matias Faldbakken ist ein ausgesprochen zurückgenommener und distanziert freundlicher Mensch. Keineswegs exzentrisch oder laut im Auftreten, nicht einmal sarkastisch im Ton. Was für eine Überraschung - und, puh, auch eine Erleichterung!

Schwer zu sagen, wen oder was genau man beim Treffen mit ihm in Oslo erwartet hatte. Aber wer seine "Skandinavische Misanthropie" kennt, diese drei krassen Romane voller Geschmacklosigkeiten, Sex- und Gewaltexzesse, und wer sich ein bisschen mit Faldbakkens destruktiver Objektkunst beschäftigt hat, seinem Faible für Vandalismus und Negativismus, der hat doch eher einen aggressiven Punk in Ledernietenkluft vor Augen als diesen leisen, höflichen Norweger mit den sorgsam zurückgekämmten Haaren.

Vor einem sitzt ein schlaksiger Typ in Jeans und Sweatshirt, der etwas sehr Ernstes ausstrahlt, wenn er von der "Architektur des Zorns und der Negativität" spricht, die er mit seiner Romantrilogie geschaffen, aber nun auch definitiv abgeschlossen habe. Kantiges Gesicht, bohrende Augen, vor Kurzem ist er 45 geworden. Sein Osloer Atelier liegt im Stadtteil Majorstua, unweit des Königsschlosses, beste Ausgeh- und Kreativszenenlage. Es sieht aus wie ein Ladenlokal und war wohl auch mal eines. Es ist erstaunlich leer und aufgeräumt.

Matias Faldbakken ist von Beruf bildender Künstler. Ein bildender Künstler, der schreibt. Oder, wie er es einmal formulierte: "der sich die Form des Romans von Zeit zu Zeit ausleiht". Er hat das sehr lange nicht mehr getan, hat sich zuletzt ausschließlich seinen Skulpturen und seiner Malerei gewidmet. Aber jetzt ist nach neunjähriger Pause wieder ein Roman erschienen. Er heißt "The Hills" (so auch der deutsche Titel) und ist komplett anders als alles, was Faldbakken bisher geschrieben hat.

Er sagt, sein Schreiben habe sich selbst neu erfunden, er sei nur gefolgt. "The Hills" spielt in einem fiktiven Osloer Edelrestaurant gleichen Namens, wo der neurotische Icherzähler mit Pokerface seinem Beruf als Kellner nachgeht. Wir erfahren nicht seinen Namen, nichts Privates, wohl aber, dass er ein "Nervengesicht" und einen Schnauzbart hat und dass er keine Überraschungen oder Veränderungen mag. Als einen "Hochsensiblen" charakterisiert er sich selber. Er ist ein Mann der strengen Routine, der "arbeitsstolz" und "unauffällig" seine Dienstleistung erbringt. Allerdings nicht, ohne alle und alles im Raum genauestens zu beobachten und zu beschreiben: die Stammgäste, seine Kollegen, das Gesicht des Maître D' und natürlich die ominöse junge Frau, die eines Tages auftaucht und alles durcheinanderbringt. Der Kellner, ein grundsätzlich ängstlicher Mensch, nennt sie die "Kindfrau" und hat einen so taxierend-sexistischen Blick auf sie, wie das in "Me Too"-Zeiten schon wieder provokant ist. Vor Aufregung unterlaufen dem Pedanten plötzlich kleine Fehler, Unaufmerksamkeiten.

Die Fassade beginnt zu bröckeln, Gewissheiten lösen sich auf. Recht viel mehr passiert nicht, aber man denkt ständig, dass jetzt gleich was passiert, eine Schändung, ein Unglück, mindestens ein Übergriff. Da ist die neunjährige Anna, auf die der Kellner aufpassen soll, die Tochter seines Freundes Edgar. Wird jemand das "süße Mädchen" missbrauchen? Schließlich ist das doch ein Buch des literarischen Schwerenöters Faldbakken, den manche als den "Bret Easton Ellis der norwegischen Subkultur" ansehen. Der hat über Pädophilie geschrieben wie andere über das Wetter. Und es baut sich in "The Hills" tatsächlich eine latent bedrohliche Stimmung auf. Es gibt Störsätze, Andeutungen, vage Verdachtsmomente. Einmal fällt der Begriff "deflorieren", einmal der Name Nabokov. Man spürt: Hier ist etwas auf der Kippe. Und wenn es vielleicht auch nur die Vorstellung eines alten Europas ist, wie sie in diesem Traditionsrestaurant noch ganz klassisch gepflegt wird.

Ein ungewöhnliches Buch für einen Provokateur wie Faldbakken, ungewöhnlich gediegen, gedämpft und sehr gepflegt im Ton. Es geht es um Konvention und Konversation in einem elitären Kosmos, auch um die Konservierung alter, aussterbender Werte. Zum Beispiel Zeitunglesen im Großformat mit raschelnden Seiten. Oder die Absenz der "Technologie", wie der Kellner die verhassten Mobiltelefone und sozialen Netzwerke umschreibt, Ausformungen "widerlicher Zeitgenössigkeit". Der Mann ist Old School wie der ganze Laden.

Faldbakken sagt, seine Idee war, "mit Sprache eine Skulptur von so einem Restaurant als kulturelle Institution zu schaffen - und dabei auch eine Nostalgie zu beschreiben". Nostalgie kann sich auswachsen zu einem rigiden Konservatismus, der sich an Vergangenem festklammert. Der Autor urteilt da nicht, er sieht dem Restauranttreiben zu wie unter einer Schneekugel, die er gelegentlich schüttelt, mit skurrilen, komischen Effekten. Er macht das durchaus elegant.

Kein Vergleich mit seinen bisherigen Schockern in Fäkal- und Brutalsprache. Gleich mit seinem 2001 erschienenen Debüt "The Cocka Hola Company" (auf Deutsch 2003) über eine Gruppe anarchistischer Pornofilmer im Kampf gegen den Mainstream erregte Faldbakken Aufsehen und begründete seinen Ruf, eine Art "nordischer Michel Houellebecq" zu sein, nur extremer. In "Macht und Rebel", dem zweiten Teil seiner "Skandinavischen Misanthropie", trieb er den popliterarischen Amoklauf gegen Kapitalismus, Kommerz und Konsenskultur weiter: Da wird von Vergewaltigung und analer Penetration bis hin zum Kokettieren mit Hitlers "Mein Kampf" keine Provokation ausgelassen, es ist - Zitat - "ein fröhliches Rein und Raus und Fick und Fack und Spritz und Gang und Bang in alle Körperöffnungen", nach dem Motto: "Je schlechter, desto besser". Der Blumenbar-Verlag, in dem der Roman 2005 auf Deutsch erschien, warnte, das Werk könne "das moralische Empfinden verletzen". Vollendet hat Faldbakken seine Trilogie mit "Unfun" (2009), einem exzessiven "Gesellschaftsporno" aus dem Splasherfilmmilieu, erzählt als pervertierte Familien- und Postkolonialgeschichte. Starker Tobak von brachialer Komik. Nichts für satireresistente Weicheier. Faldbakken trieb das Anything goes des Turbokapitalismus auf die Spitze, indem er kettensägenmassakerhaft sämtliche Werte aushebelte. Seine Bücher haben in subkulturellen Milieus Kultstatus. Auch das deutsche Regietheater hat sich früh darauf gestürzt. "Macht und Rebel" wurde 2006 vom Punkrocker Schorsch Kamerun an den Münchner Kammerspielen und ein Jahr später von Robert Lehniger im Prater der Berliner Volksbühne adaptiert; Volker Lösch inszenierte 2008 in Stuttgart "The Cocka Hola Company", und im Werk X in Wien gab es 2017 die ganze Trilogie. Matias Faldbakken hat sich einige Inszenierungen angesehen, leidenschaftslos. Mit Theater hat er nichts am Hut. "Ich kam, war geschockt und ging wieder", erzählt er trocken. Auf der Bühne fand er seine Texte meist zu platt, zu einseitig, "die Abstraktion drumherum verschwindet". Dabei habe er beim Schreiben großen Wert auf die Balance zwischen "smart" und "stumpfsinnig" gelegt, er nennt das seine "Stupiditätsstrategie". Aber es seien eben keine literarischen Texte, sagt der Autor, "ich benutze andere Werkzeuge". Zum Beispiel einen "Negativschlüssel", mit dem er das "humanistische Projekt" der Literatur und der Kunst auf den Kopf stellt und dann schaut, was passiert. Im Grunde, analysiert Faldbakken, habe er in seinen ersten drei Romanen "literarisches Trolling" betrieben, zu einer Zeit, als es zwar schon das Internet, aber noch nicht die sozialen Medien mit ihren Troll-Provokationen und künstlichen Erregungen gab. Kulturtechnisch ein erhellender Gedanke. Er sagt, seine Bücher würden unter diesem Aspekt wieder neu gelesen, gerade auch an Universitäten.

Matias Faldbakken, 1973 geboren im dänischen Hobro, weil seine Eltern dort hippiemäßig unterwegs waren, stammt aus einer Künstlerfamilie. Sein Vater ist der norwegische Schriftsteller Knut Faldbakken, seine Mutter die Keramikkünstlerin Gro Skåltveit, der Bruder Filmregisseur. Künstler zu werden war eine völlig normale Sache. Faldbakken studierte in Bergen und an der Städelschule in Frankfurt bei Thomas Bayrle. 2005 vertrat er Norwegen auf der Biennale in Venedig. Als er anfing zu schreiben, benutzte er das Pseudonym Abo Rasul (heißt so viel wie: Vater Arschloch), um den Namen der Familie herauszuhalten. Längst hat er selber drei Kinder, der älteste Sohn ist 16.

Faldbakken hat keine Werke von sich im Atelier, aber er zeigt Kataloge: Videoarbeiten, Installationen, Skulpturales, Collagen. Er scheint alles zu benutzen, was ihm unterkommt: Pizzaboxen, Müllsäcke, Patronenhülsen, Briefkästen. Es ist ein Werk der großformatigen Destruktion und Dekonstruktion. Faldbakken demoliert Sachen und arrangiert sie neu, umspannt zerquetschte Metallspinde mit Gurten und zurrt sie an die Wand oder hängt schon mal einen Müllcontainer ins Treppenhaus. Unbändige Zerstörungswut springt einen aus den Bildern an, die im Kontrast steht zu der coolen Gelassenheit des Künstlers. Der ruhige Faldbakken spricht von "vandalischen Kräften". Er kommt aus der Punk- und Graffitiszene, war Skater, als Skateboarden in Norwegen noch verboten war. Hier waltet ein Geist, der stets verneint.

"The Hills" nimmt sich dagegen schier harmlos und erlesen aus. Faldbakken ist in eine neue Phase seines Schreibens eingetreten, die ihm mit ihrer delikaten Komik und Rätselhaftigkeit gut steht. Es gibt viele geistreiche Anspielungen auf die Kunst, denn das "Hills" hat nicht nur kunstverständige Stammgäste, sondern auch eine eigene Bildersammlung, darunter einen Kippenberger. Als Vorbild diente Faldbakken kein spezielles Restaurant, "The Hills" ist vielmehr ein Konglomerat aus ein paar besonders exquisiten Orten der europäischen Gastronomie: der Kronenhalle in Zürich, der Paris Bar in Berlin, dem Theatercafé in Oslo, dem Café Majestic in Porto und dem "Bierhandel" De Pijp in Rotterdam. Das alte Europa, hier tafelt es en miniature zwischen holzvertäfelten Wänden und ist sich selbst genug. Aber durch den Filzvorhang an der Tür weht schon die neue Zeit.

Matias Faldbakken: The Hills. Aus dem Norwegischen von Maximilian Stadler. Heyne Verlag, München 2018. 238 Seiten, 22 Euro.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2018
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