Süddeutsche Zeitung

Englische Literatur:Kleine Schriftstellerin im Luftkrieg

Die herrliche Neuübersetzung von Jane Gardams frühem Roman "Weit weg von Verona" über England um 1940 zeigt, warum die inzwischen 90 Jahre alte Autorin auch hierzulande zu Recht einen späten Ruhm erlebt.

Von Franziska Augstein

Arnold Hanger ist ein miserabler Schriftsteller, aber er hat den Vorzug, dass es ihn nie gegeben hat. Daher ist es auch kein Wunder, dass "NIEMAND von dem Mann je gehört" hatte, als er an Jessicas Schule Ende der 1930er Jahre als Stargast einen imponierenden Auftritt hinlegte. Jessica, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman "Weit weg von Verona", war damals neun Jahre alt. Hanger imponierte den Schülern, weil er, schon im Gehen begriffen, sich umwandte und rief: "Zur Hölle mit der Schule! Es geht um die Sprache. DIE SPRACHE IST DAS LEBEN."

Schon damals saß Jessica auf einem Zettelkonvolut mit Selbstgedichtetem und wollte, ebenso selbstbewusst wie unsicher, dringend wissen, ob ihre Texte etwas wert seien. Es gelang ihr, Hanger ihr junges Opus zuzustecken, und er schrieb ihr in einem Brief: "DU BIST OHNE JEDEN ZWEIFEL EINE ECHTE SCHRIFTSTELLERIN!" So etwas vergisst ein Mädchen nicht. Der Auftakt ist gemacht: der von Jessicas Traum, Schriftstellerin zu werden und der von Gardams Buch.

Inzwischen befinden sich die Leser im Jahr 1940. Jessica ist zwölf, die Pubertät schleicht heran. Ihre Heimatstadt im Nordosten Englands wird regelmäßig von den Deutschen bombardiert; die Gasmaske gehört zur Ausrüstung so selbstverständlich wie der Schulranzen. Jessica ist daran gewöhnt. Sie ist noch ganz Kind: Was sie an Vorstellungen auf ihre Umwelt projiziert, das ist für sie die Wirklichkeit; die Nächte im Bombenkeller sind bei Tag schon wieder vergessen.

Zu den guten Ratschlägen an alle Autoren gehört es, nur über Dinge zu schreiben, von denen sie etwas verstehen. Folglich gibt es Romane sonder Zahl, deren Protagonisten Schriftsteller sind. Das Kalkül geht indes nicht immer auf, dann nämlich, wenn Autoren übersehen, dass die Umstände ihrer Berufsausübung für sie selbst sehr viel interessanter sind als für andere Leute. Was das Buch der englischen Autorin Jane Gardam angeht, gilt das nicht: "Weit weg von Verona" gehört zu den schönsten "Schriftstellerromanen" der Literaturgeschichte.

Jessica, wie gesagt, ist zwölf Jahre alt. Von zwei Dingen ist sie überzeugt. Das eine: Sie habe "die Gabe" zu erahnen, was andere denken. Wann immer Klassenkameradinnen hinter ihrem Rücken tuscheln, so meint sie, ratschen die Mädchen schlecht über sie. Ihr Fazit: "ich bin nicht besonders beliebt".

Zweitens: Sie habe mehr Durchblick als alle anderen - auch mehr als ihre Eltern, die sie ein bisschen bescheuert findet. Der Vater ist Pastor, wählt die Labour Party, schreibt für die linke Zeitschrift New Statesman und singt in der Kirche "zu laut". Der Mutter brennt immer das Essen an, weil sie im Gemeindedienst so engagiert ist, dass sie nichts fertig kochen kann - und die Tochter findet die Zettel jedes Mal zu spät, auf denen die Mutter Fertigkochinstruktionen hinterlässt. Kurz: Jessica glaubt sich ihren Eltern überlegen.

Sie fühlt sich einsam in ihrer Höhe. Literatur hilft, ein wenig jedenfalls. In der öffentlichen Bibliothek gibt es ein Regal mit "Englischen Klassikern". Diese Bücher will Jessica der alphabetischen Sortierung nach alle lesen. Als angehende Schriftstellerin ist sie sich nicht zu schade, von berühmten Autoren zu lernen. Konsterniert stellt sie fest: von A bis C läuft es ganz gut, da gibt es Jane Austen, Emily Brontë und Charles Dickens. Dann kommt noch Thomas Hardy - und dann lange praktisch gar nichts, bevor es bei dem Buchstaben R mit Samuel Richardson wieder losgeht.

Derweil fallen nachts die deutschen Bomben; einmal gerät Jessica tagsüber in ein Bombardement. Sie trifft einen Jungen, den sie wunderschön findet. Manche Lehrerinnen mag sie, andere findet sie grässlich. Ganz übel stößt ihr auf, wenn sie beteuern soll, sie werde aus einem Fehler lernen: entwürdigend findet sie das. Neben dem "Schriftstelleroman" gibt es ein weiteres Genre, mit dem Leser ins Hadern kommen können: Den Entwicklungsroman, vom Vorurteil zur Einsicht, vom Egozentrismus zur Empathie. Gardams Jessica lernt zwar eine ganze Menge, aber weil sie das in ihrer Ich-Erzählung gar nicht recht wahrnimmt, fühlen auch die Leser sich nicht geschulmeistert.

Jane Gardam hat ihren Roman "Weit weg von Verona" 1971 erstmals veröffentlicht. 1940 war sie, genau wie ihre Heldin, 12 Jahre alt. Offenbar hatte sie dreißig Jahre später noch eine gute Erinnerung an die absurden Beobachtungen, die man als kleiner Mensch in der Welt der Großen macht. Ihr Buch ist ganz ungemein lustig. Die Komik erwächst nicht allein aus Sprachwitz und Esprit, wofür die britische Literatur bekannt ist, sondern auch aus ihrem Sinn für die Psyche unterschiedlicher Menschen, seien es Erwachsene oder Kinder.

Das solide Fundament von Gardams Komik ist ihre genaue Schilderung der Lebensverhältnisse in der Ortschaft, in der Jessica heranwächst. Einmal ist das Mädchen eingeladen in der Villa eines in der Hierarchie über ihrem Vater stehenden Geistlichen, dessen Familie zwar sparsam, aber in besseren Verhältnissen lebt. Alle seine Kinder gehen auf ein Internat. Jessicas Mutter ist schrecklich aufgeregt und überlegt hin und her, was die Tochter an diesem wichtigen Tag anziehen soll. Nachdem sie Jessica damit ausführlich auf die Nerven gegangen ist und ihr ein grässliches Flanellkleid aufgedrängt hat, beendet die Mutter das Thema mit den Worten: "Das ist das einzig Gute am Krieg - niemand hat bessere Kleider als die anderen."

"Weit weg von Verona" wird deutschen Lesern auch eine Freude sein, weil Isabel Bogdan es herrlich frech ins Deutsche übersetzt hat, mit Schwung, mit einer amüsanten Mischung von Umgangssprache (inklusive Comicheft-Ausdrücken wie "seufz", "jaul") und schön gebauten Sätzen mit altmodischen Wörtern wie "Schnickschnack".

Erklärungsbedürftig ist noch der Titel "Weit weg von Verona": Das ganze Buch über versucht Jessica immer wieder Shakespeares "Romeo und Julia" zu lesen, deren Protagonisten bekanntlich in Verona leben. Es gelingt ihr nicht, sie kommt, wie sie sagt, "nicht rein". Im Jahr 1940, unter deutschen Bomben, mit Lebensmittelkarten und Problemen, die mit denen der Montagues und Capulets so gar nichts zu tun haben, lebt sie wirklich weit weg von Verona. Am Ende stellt sich für Jessica natürlich die Frage, ob sie zur Schriftstellerin taugt: Grins, grins.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2018
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