Politische Theorie:Jedes Mittel ist recht

Republican Presidential Candidate Donald Trump Campaign Rally

Neuzeit des reaktionären Denkens: Die Frontfrau der Tea-Party-Bewegung Sarah Palin und der Begründer des Trumpismus Donald Trump.

(Foto: Cassi Alexandra/Bloomberg)

Der Politologe Corey Robin hat ein Buch über den "reaktionären Geist" geschrieben. Gut, dass es hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Nicht so gut, dass es sie nicht einlöst.

Von Daniel-Pascal Zorn

Wenn eine Lage unübersichtlich wird, ist Orientierung nötig. Das gilt im Gelände wie im öffentlichen Diskurs. Steckt man in Wald und Wiese fest, kann ein Pfadfinder helfen, zur Not auch jemand, der bei der Bundeswehr mal einen Einzelkämpferlehrgang absolviert hat. Bevor man fragt, in welcher Richtung das Ziel liegt, muss man wissen, in welcher Richtung eigentlich welche Richtung liegt. Sonst läuft man Gefahr, den falschen Weg einzuschlagen.

Im öffentlichen Diskurs sondieren Experten die Lage. Historiker erklären die Geschichte, Soziologen die Gesellschaft und Politikwissenschaftler die Politik. Weil es aber im öffentlichen Diskurs, anders als im Gelände, keine für alle sichtbaren Wegmarken gibt, müssen diese Experten auf ihre Glaubwürdigkeit aufpassen. Sie müssen ihre Beobachtungen begründen, ihre Perspektive kritisch reflektieren und nicht mit dem Ganzen verwechseln und darauf achten, dass aus dem Experten kein Aktivist wird. Das ist ein schmaler Grat. Man muss oft genau hinsehen, um zu entscheiden, ob derjenige, der einem gerade die Welt erklärt, das eine oder das andere ist.

"Der konservative Geist ist außerordentlich geschmeidig", virtuos im Taktieren

Bei Corey Robin muss man das nicht. Schon auf den ersten Seiten seines Buches "Der reaktionäre Geist" erklärt er dem Leser: "Mein Feld ist nicht die Empirische Politikwissenschaft, sondern die Politische Theorie." Robin sieht sich als einen Theoretiker, nicht als Empiriker des reaktionären Geistes und des konservativen Denkens. Welcher Art seine Theoriebildung ist, wird ebenfalls gleich deutlich. Das Grundschema des Buches ist einfach: "Seit Beginn der Moderne sind Männer und Frauen aus gesellschaftlich benachteiligten Gruppen auf die Straße gegangen und haben gegen die Machthaber in Staat und Kirche (...) protestiert. (...) Bei so gut wie jedem Schritt wehrten sich die Herrschenden dagegen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen (...)."

Im Folgenden wird sich das konservative Denken immer wieder auf der Seite der Herrschenden, das emanzipatorische, linke, liberale Denken auf der Seite der Unterdrückten wiederfinden. Trotz dieser simplen und abstrakten Konstruktion besteht Robin auf einer empirischen Herangehensweise: "Mein Material sind Texte und Ideen, meine Methoden sind Close Reading und historische Analyse." Es ist gut, wenn ein Buch seine Ansprüche so klar formuliert. Das macht es leichter, es genau daran zu messen.

Der reaktionäre Geist ist die Übersetzung einer Aktualisierung. Robins Buch "The Reactionary Mind" erschien bereits 2011, damals noch mit dem Untertitel "Conservatism from Edmund Burke to Sarah Palin". Einige Jahre nach dem Wahlsieg von Donald Trump hat er den Untertitel an die aktuelle Situation angepasst. Er lautet nun "Conservatism from Edmund Burke to Donald Trump". Es mag Beobachter geben, die wesentliche ideologische Unterschiede zwischen dem zeitweisen Star der Tea-Party-Bewegung, Sarah Palin, und dem aktuellen Präsidenten der USA sehen.

Für Robin gehören beide in die gleiche Tradition. Das konservative Denken zeichne sich einerseits durch bestimmte "Kernelemente" aus, die es dem politischen Theoretiker erlauben, es dort, wo diese Kernelemente auftauchen, eindeutig zu identifizieren. Andererseits muss man dabei aber auch auf der Hut sein, denn das konservative Denken ist trickreich und verschlagen: "Der konservative Geist ist außerordentlich geschmeidig, reagiert auf Veränderungen der Geschicke und Umstände lange bevor andere sie wahrnehmen." Wegen dieser Eigenschaften besitze er "eine Virtuosität im politischen Taktieren, die ihresgleichen sucht".

Wo Zitate nicht passen, werden sie einfach passend gemacht

An dieser Stelle kann eine Anekdote weiterhelfen, die man sich über den griechischen Rhetoriker und Sophisten Protagoras erzählte. Protagoras stritt sich mit einem Schüler darüber, ob dieser ihm das Geld für die rhetorische Ausbildung, die er genossen hatte, zahlen müsse. Der Fall ging vor Gericht. Protagoras argumentierte so: Wenn der Schüler den Prozess verliert, müsse er ihn bezahlen, denn er habe verloren. Gewinnt er ihn, müsse er ihn ebenfalls bezahlen, denn das wäre der Beweis für eine erfolgreiche Ausbildung. Der Schüler entgegnete: "Ich muss in keinem Fall zahlen. Gewinne ich, muss ich nicht zahlen, denn ich habe gewonnen. Verliere ich, muss ich auch nicht zahlen, denn dann war die Ausbildung nicht gut."

Ganz ähnlich verhält es sich mit Corey Robins Begriff des konservativen Geistes. Auf der einen Seite ist dieser Geist so schwer zu fassen, dass nur ein wahrer Experte ihm mit der Hilfe von "Close Reading und historischer Analyse" beikommen kann. Erst die Kärrnerarbeit des politischen Theoretikers kann in der Virtuosität die Regelmäßigkeit, im politischen Taktieren die Kernelemente erkennen, die den konservativen Geist bestimmbar machen.

Man kann es aber auch umkehren: Robin legt Kernelemente des konservativen Geistes fest, die so allgemein gefasst sind, dass sich für ihn die gesamte Moderne als Geschichte von Klassenkämpfen darstellt. Konsequenterweise muss der konservative Geist deswegen "außerordentlich geschmeidig" sein, denn dadurch wird die eigene selektive Wahrnehmung eine Eigenschaft des Gegenstandes. Man selbst beschreibt dann nur noch "Ideengeschichte".

Robin zitiert laufend Konservative, die Aussagen über den Konservativismus treffen, um daraus allgemeine Bestimmungen über "den Konservativismus" abzuleiten. Das ist nicht nur wissenschaftlich fahrlässig, es ignoriert auch vollkommen den jeweiligen historischen Kontext. Wo Zitate nicht passen, werden sie passend gemacht - so im Fall einer Aussage Samuel Johnsons aus dem Jahr 1779: "Ich glaube, wir wünschen uns kaum, dass der Pöbel die Freiheit haben sollte, uns zu regieren."

Robin zieht dieses Zitat als Beleg dafür heran, dass "ein Konservativer" im Allgemeinen gleiche Freiheiten ablehnt, der "Pöbel" dient hier als vulgärmarxistisches Kriterium. Im englischen Originaltext folgt darauf jedoch noch ein weiterer Satz: "When that was the case some time ago, no man was at liberty not to have candles in his windows."

Dieser Folgesatz, zusammen mit der Tatsache, dass Johnson seine Ansicht nicht etwa "verkündet", wie Robin behauptet, sondern in einem Tischgespräch mit einem schottischen Adligen äußert, verweist auf den (wahrscheinlichen) historischen Kontext: Der "mob" ist kein Verweis auf das Lumpenproletariat, sondern eine Anspielung auf die Zeit der "Glorious Revolution", den Sieg Wilhelms III. von Oranien über Jakob II. am Boyne: Wer anlässlich der Siegesfeiern keine Kerze ins Fenster stellte, machte sich verdächtig, den neuen Herrscher abzulehnen.

Robin betreibt also nicht "Close Reading und historische Analyse", sondern das genaue Gegenteil: eine selektive Lektüre, die Aussagen aus ihrem historischen Kontext reißt, um sie zur Bestätigung des eigenen Freund-Feind-Schemas zu instrumentalisieren. Entsprechend sorgenfrei springt er dann auch durch die Geschichte - Aussagen aus dem vorrevolutionären und dem revolutionären 18. Jahrhundert werden, ohne weitere Kontextualisierung, neben solche aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert gestellt. Ob Französische oder Amerikanische Revolution, ob konfrontiert mit Sozialismus oder mit Sozialdemokratie - alles ist recht, solange es sich nur gegen die Vorstellung richtet, die Robin aus der Sicht des 21. Jahrhunderts als linksliberalen Maßstab ansetzt.

Vulgäre Ideologiekritik reduziert Komplexität auf einfache Formeln

Diese fehlschlüssige Perspektive zieht sich durch das gesamte Buch. Autoren wie Burke oder Hobbes dienen vor allem als Pappkameraden, um Robins eigene politisch gefärbte Auffassung von Ideengeschichte zu bestätigen. Eine kritische Auseinandersetzung mit klügeren Büchern zum Thema, gar mit Reinhart Kosellecks "Kritik und Krise" (1954) oder Panajotis Kondylis' "Konservativismus" (1986), fehlt. Man wähnt sich bei der Lektüre gefangen in einem nicht enden wollenden Blogbeitrag, in dem ein ums andere Mal bewiesen werden soll, wie absurd und menschenverachtend das konservative Denken ist.

Dass Robin dabei auch kluge Beobachtungen macht und unvermutete Zusammenhänge herausstellt, geht in seinem ideologiekritischen Furor fast vollkommen unter. Wer sich durch offensichtlich polemisch oder politisch gefärbte, seitenlange Nacherzählungen zu Burke, Hobbes und Nietzsche arbeiten muss, um zu richtigen Überlegungen zu kommen, wird selbst Close Reading betreiben müssen, um das Buch überzeugend zu finden. Historische Kontextualisierung bedeutet für Robin vor allem assoziative Lektüre. Bezieht sich Nietzsche etwa auf die Brüder Goncourt, werden deren Thesen zu einem Schlüssel für die Auslegung von Nietzsches Philosophie. Wenn dieser dann über die Umwertung aller Werte spricht, stellt Robin die ökonomische Theoriebildung daneben und erweckt so den Eindruck einer gemeinsamen Ideologie. Das nimmt bisweilen komische Formen an, wie in der Formulierung "Das war 1882. Nur ein Jahrzehnt zuvor hatte Menger geschrieben ...".

Wer aus vagen Gemeinsamkeiten, die auf eigenen stillen Prämissen beruhen, Ideengeschichte ableiten will, hat es sich nicht nur sehr einfach gemacht, sondern sorgt auch laufend für die Bestätigung der eigenen Prämisse. Der Teufel, das wusste schon die Inquisition, ist zugleich unendlich listenreich und an eindeutigen Zeichen zu erkennen. Die vulgäre Ideologiekritik hat dieses Schema nur säkularisiert, aber die Hermeneutik des Verdachts ist geblieben. Sie sorgt zuverlässig dafür, dass Komplexität auf einfache Formeln reduziert wird. Das kann man hilfreich finden. Aber selbst dann hätte es Robins Buch gutgetan, die Feindbildbestimmung einzuhegen, Konservativismus, libertären Alt- oder Neoliberalismus und Populismus klar zu scheiden. So wird aus "Der reaktionäre Geist" nur eine Enzyklopädie dessen, was man alles schlecht finden kann, wenn man links ist. Und das ist entschieden zu wenig für den Anspruch, den das Buch an sich selbst stellt.

Corey Robin: Der reaktionäre Geist. Von den Anfängen bis Donald Trump. Aus dem Englischen von Bernadette Ott. Christoph-Links-Verlag, Berlin 2018. 344 Seiten, 25 Euro.

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