Marc-Aurel-Biografie:Zeitreise ins Innere einer Hochkultur

Marc-Aurel-Biografie: In Tulln, am Ufer der Donau, steht seit dem Jahr 2001 eine freie Nachbildung der berühmten Reiterstatue des römischen Kaisers Marc Aurel.

In Tulln, am Ufer der Donau, steht seit dem Jahr 2001 eine freie Nachbildung der berühmten Reiterstatue des römischen Kaisers Marc Aurel.

(Foto: imago)
  • Der Althistoriker Alexander Demandt beleuchtet die Persönlichkeit des Philosophenkaisers in seiner Marc-Aurel-Biografie in vielen Facetten.
  • Die römische Hochkultur erreichte unter ihm ihre größte Blüte, aber Marc Aurel führte auch mörderische Feldzüge gegen germanische Stämme.
  • In seinen berühmten "Selbstbetrachtungen" legt Marc Aurel dem Leser Bescheidenheit, Selbstdisziplin, Dankbarkeit für alles Gute und Festigkeit angesichts des Übels ans Herz.

Rezension von Joachim Käppner

Wenn es jemanden gab, der Marc Aurel nicht schätzte und verehrte, dann waren es die Stiere, vor allem die weißen. So spottet noch lange später ein Epigramm über die Neigung des Kaisers, sie zahlreich den Göttern zu opfern, um für Hilfe gegen die Pest oder Invasoren zu danken: "Wir, die weißen Stiere, grüßen Marcus, den Cäsar! / Wenn Du noch einmal siegst, sind wir alle dahin."

Marc Aurel, der von 161 bis 180 das Römische Reich regierte, zählt zu den bekanntesten Herrschern des Imperiums. Helmut Schmidt - dem die neue Biografie des Kaisers gewidmet ist - las in schweren Tagen die philosophischen Selbstbetrachtungen Marc Aurels, den er als "erstes Vorbild" bezeichnete. Eine Kopie von dessen berühmtem Reiterstandbild, dem Caballus in Rom, zierte den Schreibtisch des Bundeskanzlers. Auch von "Mad Dog" James Mattis, dem ehemaligen General der US-Marines, den die seltsamen Zeitläufte zu einer raren Stimme der Vernunft in der Trump-Administration erhoben, bekennt sich als Verehrer Marc Aurels. Stoische Gelassenheit, wie jener sie besaß, mag Mattis demnächst auch benötigen, falls der irrlichternde US-Präsident ihn demnächst schassen sollte, wie es in Washington gemunkelt wird. Und selbst wer nie Marc Aurel gelesen hat, wird ihn wahrscheinlich kennen, aus Ridley Scotts überaus erfolgreichem Monumentalfilm "Gladiator", an dessen Beginn der greise Kaiser den Sieg über sehr wilde Germanen erringt.

Alexander Demandt ist einer der angesehensten deutschen Althistoriker, er hat nun, bereits 81-jährig, eine an Stoff, Gelehrsamkeit und Umfang beeindruckende Lebensbeschreibung Marc Aurels vorgelegt. Zu Demandts Werken gehören eine Biografie Alexanders des Großen sowie eine Rekonstruktion der nie vollendeten römischen Kaisergeschichte Theodor Mommsens. Dieser hatte 1902 den Literaturnobelpreis für seine Geschichte der römischen Republik erhalten; die Fortsetzung, das Imperium nach Cäsar, war dann über Anfänge nicht hinausgekommen. Aus Vorlesungsmitschriften, Vorstudien und Manuskripten setzte Demandt das Werk fort, gewiss im Sinne des Altmeisters.

Weniger Freude hätte dieser, als liberaler Mann bekannt, wohl an Demandts Ausführungen zur Flüchtlingskrise gehabt. In der FAZ verglich der Althistoriker die Aufnahme von einer Million Syrer und Iraker 2015 mit der fatalen Fehlentscheidung der Römer, im späten 4. Jahrhundert das von den Hunnen bedrängte Germanenvolk der Goten im Reich aufzunehmen. Für die Zuflucht zeigten sie sich wenig dankbar, 378 schlugen sie bei Adrianopel die Legionen Roms vernichtend, ein Vorbote des nahenden Untergangs. Dies mit Merkels Flüchtlingspolitik zu vergleichen und daher zu behaupten, die Kanzlerin betreibe Politik "auf Kosten des deutschen Volkes", das war schon eine arg an den Haaren herbeigezogene und des großen Althistorikers unwürdige Polemik. Würde die Analogie passen, hätte die Bundesregierung schon alle Syrer samt einer kampferprobten und gut gerüsteten Armee aufnehmen müssen und nicht jene, die vor dieser Armee und dem IS aus ihrer Heimat flohen.

Wer nun befürchtete, der Meister sei womöglich im höheren Alter von einer Vervonstorchung des Gemüts befallen, kann aufatmen. "Marc Aurel" ist ein grundsolides und zugleich schillerndes, die Persönlichkeit des Philosophenkaisers in vielen Facetten beleuchtendes Buch. Für Anfänger in römischer Geschichte ist es freilich weniger zu empfehlen, so überreich lässt Demandt das Wissen aus dem Füllhorn seiner Gelehrsamkeit strömen. Doch wie lohnend es ist, sich darauf einzulassen. Alexander Demandt nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise ins Innere einer Hochkultur, in die Ära ihrer größten Blüte; sie wird mit Marc Aurel enden und niemals wiederkehren.

1776 schrieb der Brite Edward Gibbon in seiner monumentalen Geschichte vom Untergang Roms, das zweite Jahrhundert, jene in der Herrschaft Marc Aurels gipfelnde Ära der "guten Kaiser", sei "das glücklichste und blühendste" Zeitalter der Menschheit gewesen: ein Reich im Frieden nach außen (meistens, aber nicht mehr unter Marc Aurel) und mit sich selbst, durch die Legionen wohlgeschützte Grenzen, Wohlstand für viele, eine Blütezeit für Philosophie, Architektur und nicht zuletzt einer altheidnischen Vielfalt der Götter und Weltanschauungen. "Von da ab", schrieb auch Mommsen, "ging es abwärts."

Als Gesetzgeber beschützte der Kaiser arme Mütter und sogar Sklaven

Der Mann an der Spitze war ein Stoiker, in seinen "Selbstbetrachtungen" legt er dem Leser Bescheidenheit, Selbstdisziplin, Dankbarkeit für alles Gute und Festigkeit angesichts des Übels ans Herz, Milde, Nächstenliebe und die Kunst, dem eigenen Gewissen zu folgen statt sich abhängig von Lob und Tadel anderer zu machen. Als Gesetzgeber beschützte der Kaiser arme Mütter und sogar Sklaven, er war mild gegen seine Feinde, vielleicht zu mild gegen seinen nichtsnutzigen Sohn Commodus, der nach ihm ein blutiges Regiment führen sollte.

Unter Marc Aurels Adoptivvater Antoninus Pius hatte das Imperium eine nie gekannte Zeit langen Friedens erlebt, doch nahte an den Grenzen Unheil. Ganz gegen seine Natur war Marc Aurel gezwungen, über viele Jahre mörderische Feldzüge gegen germanische Stämme zu führen, die über das Imperium hereinbrachen. 167 erschienen die Markomannen vor der Stadt Aquileia und lösten im friedlichen Italien Panik aus. Marc Aurel blieb siegreich, doch die Kriege hörten nicht auf. 180 starb er im Wiener Feldlager. In Tulln an der Donau steht eine Replik des Caballus, mit der rechten Hand weist der Kaiser über den Strom, auf dessen linkem Ufer in nebeldurchtränkten Wäldern der Feind hauste; die Anfangsszene von "Gladiator" zeigt verblüffend authentisch, wie enorm die militärische Anstrengung Roms sein musste, um den Krieg auf dessen Gebiet zu tragen.

Lust und Schmerz können wir nicht ausschalten, aber wir können sie mildern

Marc Aurel siegte in vielen Schlachten und Kriegen und gewann damit doch nicht mehr als wenige Jahrzehnte der Atempause, bevor der Sturm der Barbarenvölker erneut und um so heftiger über das Reich kam. Demandt schildert anschaulich die Taten seiner Feldherren und Kommandeure, Männer wie Pertinax, der spätere Kaiser, und Marcus Valerius Maximianus, der eigenhändig den Anführer der gefährlichen Narisker erschlug, wie der Historiker Cassius Dio berichtete - wahrscheinlich das Vorbild für den "Gladiator" Maximus im Film, in dem allerdings der psychotische Commodus den Vater erwürgt, so war es in Wahrheit nicht.

Als die Legionen an der Donau die gefürchteten Panzerreiter der Sarmaten geschlagen hatten, verweigerte Marc Aurel sich der Versuchung zur Prahlerei: "Die Spinne fängt die Fliege und ist stolz. Menschen fangen Hasen und Fische, Wildschweine und Bären. Wir fangen Sarmaten. Sind nicht alle Räuber, wenn du ihre Grundsätze prüfst?" So geboten es die Lehren der Stoa. Wie Demandt überzeugend darlegt, hatten diese jedoch, trieb man sie zu weit, einen gravierenden Schwachpunkt: Sie verboten Gefühle bis an den Rand der Apathie. Aber so weit, über der Welt stehend, hat sich der große Stoiker Marc Aurel nicht empfunden, und so hat er auch nicht gehandelt. Er vertrat, wie sein Lehrer Herodes Atticus, nicht Gleichgültigkeit, sondern Metriopathie, die Kunst des Maßhaltens. Demandt schreibt: "Lust und Schmerz ... können wir nicht ausschalten, wollen aber können und sollen wir sie mildern und meistern, wie Herodes sagt und Marcus (Aurelius) weiß."

Darum hielt es der Kaiser nicht für verboten, im Leben die "Gaben der Götter zu genießen". Von der ins Jenseits gewandten Askese und Leibfeindlichkeit früher Christen ist die Philosophie des Kaisers weit entfernt; sie wird wohl auch deshalb, wie Demandt amüsiert schreibt, heute sogar in Managerseminaren genutzt, um "Seelenfrieden für Gestresste" zu bewirken, allerdings für klingende Münze, was dem Kaiser wenig gefallen hätte.

Überhaupt, es tut dem Buch gut, dass sein Autor den Stoff durch Sottisen und Analogien zur Gegenwart auflockert - etwa dass die Kommunen "schon damals!" zu viel Geld verschwendeten. Demandt bettet das Leben des Kaisers in die Beschreibung seiner Welt ein; er kommt dabei, trotz seines ungezähmten Hangs zu ständigen Fußnoten und mitunter kräftig mäandernden Exkursen, der Persönlichkeit und dem Leben Marc Aurels sehr nahe.

Alexander Demandt: Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt. Verlag C. H. Beck, München 2018, 592 Seiten, 32 Euro.

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