Süddeutsche Zeitung

Buch "Was ist deutsch?":So weit die Zunge reicht

"Was ist deutsch?" Der Linguist Utz Maas beschäftigt sich mit den sprachlichen Verhältnissen im Land. Aber findet er gute Antworten?

Von Hans-Herbert Räkel

Über 500 Seiten als Antwort auf die lakonische Frage: "Was ist deutsch?" Das klingt nach einem Vermächtnis. Der emeritierte Sprachwissenschaftler Utz Maas plädierte schon vor über 40 Jahren (mit Karl Marx als treuem Mentor) "für eine andere Sprachwissenschaft". Das Nachdenken über Sprache sollte eine Erfahrung für alle werden. Das aber ist ein Wunsch, der heute noch weniger erfüllt zu sein scheint als damals. Denn nun geht es darum, den gängigen Diskurs "mit seinen Topoi von Sprachverfall, Überfremdung der Sprache u. dgl. rational aufzulösen".

Das Buch beschäftigt sich deswegen nicht mit der deutschen Sprache als solcher, sondern mit den "sprachlichen Verhältnissen in Deutschland". Es soll selber "Spracharbeit" leisten, indem es die herrschende Vorstellung von dieser Sprache erweitert. Die Autor will zeigen, "wie die kolportierten sprachhistorischen Klischees aus den Angeln zu heben sind". Ein solches Klischee ist es zum Beispiel, die Sprache als ein gegebenes Erbe zu betrachten. Vielmehr ist sie das mehr oder weniger vorläufige Ergebnis der verschiedensten Initiativen von "Sprachausbau". Dies ist der wichtigste Begriff für die Auffassung der Sprache in diesem Buch, denn "Ausbau heißt Gewinn an Autonomie".

Im Vordergrund stehen dabei immer die äußeren Bedingungen: auf mündliche oder schriftliche Kommunikation bezogener Gebrauch, Varietäten des Registers (formell, informell, intim), Varietäten der Regionen und Dialekte (besonders das Verhältnis von Hoch- und Niederdeutsch) , Minderheitensprachen (etwa Dänisch, aber vor allem auch Jiddisch und Sorbisch), Migrantensprachen, kulturelle Vorbilder (Latein, Französisch, Englisch), die räumliche Verteilung, die wechselnde staatliche Abgrenzung, die politische und kirchliche Organisation.

Eminent wichtiges Ausdrucksbedürfnis

Utz Maas bleibt nie an der Oberfläche, begnügt sich aber auch nicht, eine durch diverse Forschungsinteressen angehäufte Stoffmasse zu vermitteln, denn er will ja "der gesellschaftlichen Praxis eine Perspektive" geben. Diese Perspektive ist der Ausbau vielförmiger Sprachvarietäten zur Schriftsprache. Die "interne" und die "externe" Sprachgeschichte sind dafür nur die beiden Seiten derselben Medaille, wobei freilich die interne (formelle) Seite ein linguistisches Studium zu er fordern scheint. Denn "die Frage des Sprachausbaus ist eine Frage des Erschließens der grammatischen Ressourcen".

In diesem Bereich dürfte die Darstellung ausführlicher sein und tiefer dringen. Die Ablautreihen , einstmals das rote Tuch für Kritiker der "Älteren Abteilung", kommen zwar hier zu Ehren bei der "Grammatikalisierung" des Ablauts für das Verb in allen germanischen Sprachen. Aber man findet fast nichts zum spektakulären Ausbau des ärmlichen germanischen Systems im Deutschen. Das moderne Deutsch ist zwar immer noch "am laborieren" mit einer Verlaufsform (das wird öfter erwähnt), hat aber mit Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II ein Zeitraster entworfen, das mit dem lateinischen und dem der modernen Nachbarsprachen konkurrieren kann, vor allem aber ein Passiv entwickelt, das semantische Möglichkeiten bietet, die weder im Lateinischen noch in den modernen Nachbarsprachen vorgebildet sind.

Die Materialbasis dafür scheint noch dazu nicht besonders geschickt gewählt, soll das Hilfsverb "werden" doch mindestens auf zwei Hochzeiten tanzen (Passiv, Futur). Dazu kommt ein sehr junger Sprachausbau, ohne lateinisches oder ein anderes Vorbild, der uns so treffend und so intelligent erscheint, dass wir ihn hier beinahe schmerzlich vermissen: die indirekte Rede. Natürlich kann man in allen Sprachen sagen, was ein anderer gesagt hat, aber eine konsequent grammatikalisierte Verbform dafür gibt es in keiner der Nachbarsprachen. Die zu diesem Zweck umfunktionierte Form (Konjunktiv I) verkörpert ein für die Kommunikationsgesellschaft eminent wichtiges Ausdrucksbedürfnis.

Die Rundfunk- und Fernsehnachrichten etwa bestehen meist nicht aus berichteten Ereignissen, sondern aus der Wiedergabe dessen, was dieser und jene gesagt haben. Diese Markierung der Verantwortung des Sprechenden muss der Sprachgemeinschaft überaus wichtig gewesen sein, denn sie realisiert dieses Projekt fast gewaltsam mit durchaus mangelhaften Mitteln: Da der Konjunktiv I oft nicht eindeutig ist, muss man ihn ersetzen, und die Normverletzung ist sozusagen programmiert. Im Namen der Demokratie, der freien Meinungsäußerung und des Respekts vor dem anderen ist es aber sinnvoll, das Projekt dieses Sprachausbaus durch eine Norm zu schützen und zu achten. Nur Banausen plädieren dafür, überhaupt nur noch "würde-Formen" zu benutzen.

Auch ein Buch über die Sprache wird in solchen Verhältnissen geschrieben, und die akademischen Institutionen gehören dazu: "Es bleibt mir nur die Hoffnung, dass ein solches, von inhaltlichen (und politisch transparenten) Fragen geleitetes sprachgeschichtliches Studieren durch die derzeitige straffe prüfungsorientierte Studienorganisation nicht blockiert wird."

Aber es sind nicht nur organisatorische Verhältnisse, welche ein solches Studieren bedrohen. Die Wissenschaft selber scheint nicht so frei zu sein, wie sie zu sein glaubt. Auch in diesem Buch, und gegen dessen erklärte Absicht, scheint die Geschichte nicht ohne Ziel auszukommen, und auch in diesem Buch scheint die Forschung der Aufklärung in den Weg zu treten.

"Hier soll also nicht das Epos der 'Biographie' der deutschen Sprache nacherzählt werden", und "die Sprache ist kein Organismus, der wächst und sich entfaltet", erklärt Utz Masse. Dennoch heißt schon sein Untertitel: "Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse". Entwicklung ist aber das biologische Modell, nach dem sich eben aus dem Ei einer Kopflaus nichts anderes als eine Kopflaus entwickelt. Der Autor weist dieses Modell zwar ausdrücklich zurück, aber es drängelt sich immer wieder vor. Es geht ja auch von Anfang an um "die Bedingungen, unter denen sich unsere heutigen sprachlichen Verhältnisse herausgebildet haben. Dadurch wird das gesellschaftliche Projekt sichtbar, zu dem die Nationalsprache gehört: auf dieses hin ist die historische Entwicklung angelegt."

Diese Geschichtsmythologie, ein Erbstück aus der Hinterlassenschaft der Heilsgeschichte, hat sich in der Tat seit der Aufklärung in den Begriff der Nationalgeschichte geflüchtet. Darum zieht auch die Sprachgeschichte das Wort "national" wie ein Magnet an. Utz Maas gebraucht es oft, manchmal in Anführungszeichen, meistens ohne: "Die sprachlichen Verhältnisse in der Barockzeit waren ausgerichtet auf das Projekt einer Nationalsprache als Schriftsprache", heißt der erste Satz auf Seite 201, die dann nichts anderes tut, als diesen Satz zu desavouieren. Etwas schüchtern taucht der Gedanke wieder auf: "Aber die gesellschaftliche Dynamik richtete hinter dem Rücken der Subjekte auch die Alltagspraxis der Menschen zunehmend auf einen nationalen Horizont aus". Aber im Blick können sie diesen Horizont dann wohl kaum gehabt haben!

Aber der Autor weiß es ja eigentlich besser, und wir halten uns lieber an seinen Satz: "Der Fluchtpunkt der heutigen Hochsprache wird durch den Verlauf der Geschichte greifbar als mehr oder weniger imaginäres Gegenstück zu einem komplexen Prozess der Arbeit an der Sprache". Ist es nicht gerade bemerkenswert, dass die Nation für den Ausbau der deutschen Sprache, etwa im Vergleich zu Frankreich, eher durch Abwesenheit glänzte?

Auch oder gerade wenn er lügt

Für die orthodoxe Terminologie sind die sprachlichen Strukturen geometrisch ("linksläufiger Ausbau", "Vorfeld", "Mittelfeld", "Rahmenstellung"). Wer etwas sagen will, bildet aber keine Rahmen. Was tut er denn? Wenn er Deutsch spricht, bewegt er sich souverän in einem Paradigma von drei Aussagemöglichkeiten, die drei Bedeutungen repräsentieren: Die Endstellung des Verbs ist unmarkiert und wahrheitswertneutral, die Zweitstellung ist markiert und bedeutet wahr oder falsch, die Erststellung ist markiert und bedeutet eine Art von Hypothese.

Wer etwas sagen will, muss, wenn er Deutsch spricht, eine dieser Formen wählen. Dieses schöne Paradigma - es ist in dem Sinne schön wie man eine gelungene mathematische Formel schön nennen kann - ist eine prägnante Eigenschaft des modernen deutschen Sprachausbaus. Ob es (heute) nicht auch etwas mit unserem rationalen Weltbild zu tun hat, dass die Syntax obligatorisch den logischen Wahrheitswert markiert, darüber darf man dann meditieren.

In diesem Muster erfährt sich der Sprecher jedenfalls als Subjekt seiner Erfahrung (auch oder gerade wenn er lügt). Die geometrische Formalisierung lädt dagegen allen Ernstes zu Erkenntnissen wie dieser ein: Da die Abfolge der Konstituenten "Kopf" und "Satellit" im Deutschen nicht stabil sei wie im Französischen, man also ihre Reihenfolge vertauschen und sagen müsse "ein Lied singen" und "ich singe ein Lied" (statt "chanter une chanson" und "je chante une chanson"), sei das Deutsche weniger "harmonisch": "Unharmonische Strukturen wie im Deutschen sind Spuren des Umbaus ... Das Deutsche ist in dieser Hinsicht ohnehin eine relativ wenig balancierte Sprache." Nur geht es eben - anders als in der Linguistik - hier nicht um Balance, sondern um Bedeutung. Und damit um die Menschen und ihre Erfahrung.

Wer hätte das besser und öfter gesagt als Utz Maas? Und ist es nicht tragisch, dass er die Sprache einer Linguistik benutzt, die dafür keine Antenne hat? Vor vierzig Jahren nannte er so etwas "formalistische Pervertierung" - und hat damit immer noch recht.

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Quelle:
SZ vom 18.12.2012/ihe
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