An diesem Freitag, 12 Uhr Ostküstenzeit, wird Donald Trump also als 45. Präsident der Vereinigten Staaten auf den Stufen des Kapitols vereidigt, und große Teile der Menschheit werden sich zum x-ten Mal seit der Nacht zum 9. November fragen: Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte so jemand gewinnen? Ins höchste Amt gewählt, obwohl er so viele Wählergruppen verhöhnt und attackiert hat. Das Fragen, das Schuldsuchen, das Fingerzeigen und Wundenlecken werden sich mit der Inauguration fortsetzen. Nach diesem Wahlergebnis ist kaum jemand schlauer. Eine jedoch war es lange vorher: Katherine J. Cramer, eine junge Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Madison, der Hauptstadt des Bundesstaats Wisconsin.
Seit der Wahl von Gouverneur Scott Walker zerfällt Wisconsin in zwei Lager
Im März 2016 erschien ihr Buch "The Politics of Resentment" (Die Politik des Unmuts), eine Analyse des politischen Bewusstseins der ländlichen Bevölkerung von Wisconsin. Cramers Erkenntnis: In der politischen Debatte Amerikas geht es längst nicht mehr um die Frage "Demokrat oder Republikaner", sondern um die geografische Verortung, um Stadt oder Land. Die weiße ländliche Mittelschicht sieht sich von einer selbsterklärten urbanen Elite und damit von der großen Politik ignoriert und verachtet. Sie ist überzeugt, dass sie nicht ihren fairen Anteil erhält: an Staatshilfen, an politischer Mitsprache, an Respekt. Dagegen bekämen andere Gruppen - Schwarze, Einwanderer, Banker, Beamte - mehr, als ihnen zustehe ("Resentment" bedeutet auch "Missgunst").
Was sich wie eine Prognose des Wahlausgangs vom November liest, hatte Cramer natürlich gar nicht im Blick. Als sie das Buch recherchierte und schrieb, war Trumps Präsidentschaftskandidatur noch unvorstellbar. Sie exerziert ihre These an Scott Walker durch, dem Republikaner, den die Tea-Party-Bewegung 2010 ins Amt des Gouverneurs von Wisconsin hievte. Seit Walkers Wahl zerfällt der Staat in zwei Lager: konservative Land- und liberale Großstadtbevölkerung. Das ist nicht untypisch für die USA, dieses riesige, in weiten Teilen dünn besiedelte Land. Doch in Wisconsin geht die Kluft besonders tief, 2012 verliehen Journalisten dem Staat den zweifelhaften Beinamen "Politisch meistspaltender Landstrich in Amerika".
Ungewöhnlich und bemerkenswert ist Cramers Vorgehensweise: Während die Politikwissenschaft immer mathematischer und quantitativer wird, belebt sie die gute alte, von den Methodenfanatikern belächelte Feldstudie. Sie hat getan, was Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, Demoskopen, so der Vorwurf, nicht (mehr) tun: Sie hat sich eingehend mit den "Abgehängten" befasst, sich fünf Jahre lang, von 2007 bis 2012, regelmäßig mit ihnen getroffen, sich stundenlang unterhalten, die Gespräche transkribiert und ausgewertet - 39 Gruppen in 27 Landkreisen Wisconsins. Kaum ein einzelner Wissenschaftler oder Journalist, geschweige denn ein Politiker, investiert so viel Mühe. Das hier ist Hands-on-Forschung, und ihr Buch wird seit der Wahl wie ein papiergewordenes "Aha!" durch das vermeintliche "Establishment" gereicht - durch Redaktionen, Thinktanks, Abgeordnetenbüros.
Wisconsin liegt im Norden der USA, an den Großen Seen. Der Staat ist zweieinhalb Mal so groß wie Bayern, knapp 90 Prozent der 5,7 Millionen Einwohner sind Weiße, fast die Hälfte stammt von deutschen Einwanderern ab. Die Landwirtschaft ist einer der drei wichtigsten Wirtschaftszweige, der Staat hat den Beinamen America's Dairyland, Amerikas Molkereiland, in den Souvenirläden der Flughäfen hat man eine große Auswahl an gelben Schaumstoffhüten in Form eines löchrigen Käses. Es gehört zum Flyover Country, zu jenen US-Staaten, die die Großstädter der West- und Ostküste angeblich nur aus dem Flugzeugfenster kennen. Vor allem ist Wisconsin bei Präsidentschaftswahlen ein "Swing State", ein Bundesstaat, bei dem bis zuletzt ungewiss ist, ob Demokraten oder Republikaner das Rennen machen. Diesmal holte sich Trump dort alle zehn Wahlleutestimmen.