Liebesleben in der arabischen Welt:Verklemmtes Abendland, frivoles Morgenland?

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Die repressive Haltung gegenüber der Sexualität führt in der arabischen Welt heute vor allem zu gravierenden Einschränkungen für Frauen. Zwei Frauen aus dem Morgen- (rechts) und eine aus dem Abendland.

(Foto: AFP)

"Flaubert fickte sich nilaufwärts": Einst war Europa ein Kerker der Prüderie, während der Orient erotische Libertinage versprach. Heute stimmt das so nicht mehr. Ein bemerkenswertes Buch über das Liebesleben in der arabischen Welt plädiert für den menschenfreundlicheren Zugang zur Sexualität, der im Islam jahrhundertelang gelebt wurde.

Von Sonja Zekri, Kairo

Es ist nicht ganz fair, zugegeben, aber beginnen wir trotzdem mit dem Blick eines Ausländers, eines aufgeschlossenen, nein, lüsternen Fremden: Flaubert. Der Franzose bereiste Ägypten in der Mitte des 19. Jahrhunderts und verbrachte seine Zeit in Bordellen, bei dicken kaffeebraunen Huren oder lasziven männlichen Prostituierten, bei Striptease und Massagen, auf der Syphilis-Station eines Krankenhauses.

Ein Junge schlägt ihm ein Geschäft vor: "Wenn Sie mir fünf Paras geben" - weniger als ein Piaster - "bring ich Ihnen meine Mutter zum Ficken. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste, vor allem eine lange Latte."

Heute weiß man: Da war jede Menge Projektion im Spiel, Europa war in jenen Tagen ein Kerker der Prüderie und blieb es bis ins 20. Jahrhundert. Der Orient, das absolut Andere, schrieb einst Edward Said, war ein "Ort, wo man sexuelle Erfahrungen suchte, die in Europa undenkbar waren." Verklemmtes Abendland, frivoles Morgenland?

Shereen El Feki lässt in ihrem zu Recht vielbeachteten Buch "Sex und die Zitadelle" einen arabischen Kronzeugen auftreten, der zeigt, dass die Illusionen auch in die andere Richtung wirkten.

Der Imam Rifaa Rafi al-Tahtawi aus Oberägypten fuhr zwanzig Jahre vor Flauberts Ägypten-Besuch auf eine staatlich finanzierte Bildungsreise nach Frankreich, und obwohl er die Tugendhaftigkeit der Französinnen stark schwankend fand, lobte er die französische Verachtung - schon damals! - für Homosexualität.

Sie dachten, Prüderie sei ein Standortvorteil

Manche arabische Denker des 19. und 20. Jahrhunderts vermuteten, dass die Rückständigkeit ihrer Gesellschaft ihren Grund gerade in der arabischen Libertinage habe: Die Prüderie des Westens, so die These, war ein Standortvorteil.

So ging die Besinnung auf einen vermeintlich "echten" Islam einher mit wachsender Lustfeindlichkeit. Heute, so die Ironie der Geschichte, ist die verklemmte Sexualmoral in der arabischen Welt ein gängiger Topos der islam- oder oft einfach der ausländerfeindlichen Propaganda im Westen.

Dabei bringt Feki zahlreiche Belege für den Zusammenhang zwischen sexueller Offenheit und kultureller Blüte des Islam. Vor 1000 Jahren diskutierten islamische Geistliche Fragen der Sexualität so konzentriert wie theologische Überlegungen, eine Fülle erotischer Literatur und Dichtkunst erfreute den Hof, aber möglicherweise nicht nur ihn. "Die Ausübung der Sexualität war ein Gebet, ein Sichschenken, ein Akt der Nächstenliebe", zitiert sie den tunesischen Soziologen Abdelwahab Bouhdiba. Sex und Islam, so ihre Botschaft, schlossen einander nicht aus.

Noch immer verstümmelte weibliche Genitalien

Nun, sie tun es heute, zumindest, so weit der Sex die Mauern der "Zitadelle" verlässt, der gesellschaftlich erwünschten, staatlich geförderten, religiös sanktionierten Institution der Ehe. Und selbst unter Verheirateten herrschen oft Unwissenheit, Leistungsdruck und Frustration. Bleibt das so? Oder, so ihre hoffnungsvolle Frage, erreichen die politischen Umwälzungen in der arabischen Welt auch das soziale Leben?

Werden sie die Pfeiler einer Welt erschüttern, in der die meisten Männer - und Frauen - es für angemessen halten, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, weil diese ihm den Beischlaf verweigert, in der nach wie vor bei achtzig Prozent der Frauen die Genitalien verstümmelt sind, weil weibliche Lust als bedrohlich gilt? "Wie wir in den Satellitenkanälen sehen, kann eine Frau mit drei Männer gleichzeitig Sex haben und immer noch nicht befriedigt sein", zitiert Feki einen jungen Ägypter. So viel zum Modernisierungseffekt der neuen Medien.

Feki, Tochter einer Waliserin und eines Ägypters, aufgewachsen in Kanada, wohnhaft in London und Kairo, macht keinen Hehl daraus, dass sie sich ihrem Thema mit dem Blick der wohlwollenden Ausländerin nähert, zumal der medizinisch interessierten.

Als Immunologin arbeitete sie für eine HIV-Kommission der UN, und ihre Distanz und gnadenlose Offenheit haben bemerkenswerte Ergebnisse zutage gefördert. Sie hat Sexualtherapeuten getroffen und ultrakonservative Scheichs, geschlagene Ehefrauen und überforderte Männer, Schwule, Lesben, Transsexuelle - es war eine Arbeit über Jahre. Nicht alles ist neu, aber manches doch überraschend - gelinde ausgedrückt.

Nachricht von der erfolgreichen Entjungferung per SMS

Dass die Ehre einer jungen Frau und ihrer Familie von der Jungfräulichkeit in der Hochzeitsnacht abhängt, ist bekannt. Aber dass die Defloration in Ägypten mancherorts quasi öffentlich vorgenommen wird, indem nicht der Bräutigam, sondern eine "Daya", eine traditionelle "Heilerin" im Beisein der Mütter das Hymen mit dem Finger oder einem mit weißem Tuch umwickelten Rasiermesser durchsticht, dürften wenige Außenstehende wissen.

Und wieder zeigt sich, dass Technik allein keinen Wandel erzwingt: Ein Kairoer Anwalt bedrängte seinen Schwiegersohn, "ihm unmittelbar nach der Entjungferung per SMS mitzuteilen, dass seine Tochter erwartungs- und ordnungsgemäß geblutet habe. Der stete Strom von Anrufen und SMS-Botschaften (. . .) machten den Bräutigam derart nervös, dass er am Hochzeitsabend versuchte, seine Braut ins Kino auszuführen." Am Ende schaltete er das Telefon aus - und die Ehe konnte vollzogen werden.

Feki trifft eine Prostituierte, die sich außerhalb der Arbeit bis zu den Augen verschleiert und darin keinen Widerspruch sieht, und eine andere, die saudische Touristinnen bedient. Sie beschreibt einen Mann, der Viagra als Bakschisch verteilt, und eine Abtreibungspraxis, die sie "Stich und Schlag"-Methode nennt: Die Frau wird mit einer Injektion betäubt und so lange auf Rücken und Bauch geschlagen, bis der Fötus abgeht - oder sie mit einer vermeintlichen Fehlgeburt ins Krankenhaus eingeliefert wird.

Eher Großessay als wissenschaftliche Studie

Sie schreibt ohne Häme, mit viel Verständnis für eine Unkenntnis in sexuellen Fragen, die auch im Westen erst vor kurzer Zeit schwand, für die Kluft zwischen menschlichen Bedürfnissen und schwierigen Moralvorstellungen, die den Alltag der gesamten Region prägt.

Gewiss, man kann einiges gegen ihr Buch vorbringen: Dass es die arabische Welt im Titel führt, aber doch meist nur von Ägypten handelt. Dass Feki zwar Sinn für Pointen hat, aber die empirische Grundlage sich manchmal auch aufs Anekdotische beschränkt. Dass sie ihre Sprache ins Schlüpfrig-Klemmige entgleisen lässt: "Flaubert fickte sich nilaufwärts", heißt es. Und westliche Sex-Touristinnen beschreibt sie als "Schwärme von Frauen in den Zwanzigern und Dreißigern", die "in die Gefilde williger junger Recken" einfallen.

Aber ohnehin muss man das Buch eher als journalistischen Großessay nehmen denn als wissenschaftliche Studie.

Gravierender ist da schon der Fluch des Erscheinungstermins in einer sich rasend entwickelnden Zeit. Feki hat einen Großteil des Werkes unter dem Eindruck der letzten bleiernen Mubarak-Jahre geschrieben - und der mitreißenden Selbstbefreiung Ägyptens durch den Sturz des Tyrannen.

Die islamistischen Profiteure hatten gerade erst ihr bärtiges Haupt erhoben, als das Buch in Druck ging. Inzwischen weiß man, dass sich die Hoffnung auf größere Offenheit in Ägypten erst einmal nicht erfüllt, im Gegenteil: Ein Mindestalter für Eheschließungen, Geburtenkontrolle, der Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung gelten den regierenden Islamisten und ihren noch konservativeren Partnern als westlicher Import, als un-islamisch, ja, un-arabisch - oder aber als Überbleibsel der Mubarak-Ära.

Soziologische Entwicklungen reichen tiefer als Diktaturen

In schwierigen Zeiten, so schreibt Feki zu Recht, besännen sich die Ägypter stets auf die Religion, und diese Zeiten sind mehr als schwierig.

Andererseits reichen soziologische Entwicklungen tiefer und dauern länger als Legislaturperioden, sogar als Diktaturen. Dass die arabische Welt, also vor allem Ägypten, Sexualvorstellungen wie im Westen entwickelt, hält die Autorin realistischerweise für ausgeschlossen. Aber wenn die Menschen zu jenem menschenfreundlicheren Zugang zur Sexualität zurückfänden, den der Islam ihnen gestattet und den sie über Jahrhunderte gelebt haben, dann wäre ihrer Ansicht nach viel gewonnen. Ausgeschlossen ist das nicht.

Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle". Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Carl Hanser Verlag, München 2013. 416 Seiten, 24,90 Euro.

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