Buch über Ingmar Bergman:Der oberste Liebhaber

Nach der letzten Seite bleibt das Vermissen: Das Leben und Werk des Filmemachers Ingmar Bergman in einer gigantischen bilderreichen Dokumentation. Was für ein Buch.

Thomas Steinfeld

Das Gesicht von Ingmar Bergman: Es ist hoch, schmal, er hat eine lange Nase, einen weichen Mund und kühle Augen. Wenn er eine Baskenmütze trägt, in jungen Jahren, könnte er als Franzose durchgehen, als jungenhafter, oft fröhlicher Salonlurch und Vorstadtverführer, die Zigarette im Mundwinkel hängend.

Ingmar Bergman mit Sohn Daniel und Ehefrau Käbi Laretei, 1960er Jahre

Vererbte Leidenschaft: Ingmar Bergman zeigt seinem Sohn Daniel den richtigen Umgang mit der Kamera. Im Hintergrund Bergmans vierte Ehefrau Käbi Laretei.

(Foto: Foto: dpa)

In seinem Heimatland, in Schweden, gilt er gar nicht so sehr als der ernste, dunkle, tiefe Künstler, für den man ihn anderswo hält, sondern als großer, untreuer Liebhaber und, in der Folge, als Stammvater einer weit verzweigten Dynastie.

Er behält dieses Gesicht, sein Leben lang. Doch verliert es, als er älter wird, an sinnlicher Ausstrahlung und nimmt statt dessen die Züge eines Asketen an. Am Ende ähnelt es dem Antlitz des Todes, wie er im "Siebenten Siegel" (1956) auftritt, dem Film, in dem er das Mittelalter zur Allegorie der Menschheit machte.

Merkwürdig, wie der Ruhm der großen Filmregisseure verblasst. Ingmar Bergman gehört zu ihnen, neben Federico Fellini, Akira Kurosawa und Jean Renoir, die, so wie er, die Autoren ihrer eigenen Filme waren. Aber wie viele Bilder von ihnen lassen sich, auch unter Menschen, die viel gesehen haben, sofort und ohne Anstrengung aus dem Gedächtnis abrufen!

Symbolische Bilder

Anita Ekberg im Trevi-Brunnen in Fellinis "La Dolce Vita". Toshira Mifune, wie er in Kurosawas "Die sieben Samurai" den Springteufel spielt. Und wie viele sind es erst bei Ingmar Bergman: Harriet Andersson, die Strickjacke über die Schultern gezogen, auf einem Felsen in den Schären im "Sommer mit Monika"; Bengt Ekerot als der Tod im "Siebenten Siegel", wie er an einer grauen Felsküste Arm und Mantel ausstreckt; Max von Sydow, wie er in der "Jungfrauenquelle" (1960) eine Birke ausreißt; Erland Josephson und Liv Ullmann in "Szenen einer Ehe" (1973), im Doppelbett mit Messinggestell diskutierend; der weihnachtliche Reigen, angeführt von Jarl Kulle, in "Fanny und Alexander" (1982).

Und leicht ließen sich noch zwei oder drei andere Bilder finden. Symbolisch sind sie alle. Aber ihre Bedeutung ist offenbar. Und nicht ihrer Symbolik wegen sind sie so geläufig geworden, sondern weil sie so demonstrativ einfach sind.

Das schwarzblaue Monstrum, groß wie eine Zeitungsseite, schwer wie eine Grabplatte, das den Titel "The Ingmar Bergman Archives" trägt, besitzt weder Namens- noch Sachregister. Es ist schwierig, sich in diesem Konvolut zurechtzufinden, trotz mehr oder minder chronologischem Aufbau. Eher als einer Monographie gleicht dieses Werk einer gigantischen Mappe, in der einzelne Sammelgebiete zusammengelegt sind wie in improvisierten Ordnern.

Aber die Mischung passt zu diesem arbeitsreichen, aber doch auch souverän geführten Leben passt - und zu einem Werk, das über vierzig Filme umfasst, Theaterstücke, Bücher, Arbeiten für Fernsehen und Rundfunk. Die Opern- und Ballettaufführungen sind darin dokumentiert, eine Reihe von großen Interviews, darunter eines mit der Zeitschrift Playboy aus dem Jahr 1964 - und die Programmschrift "Selbstanalyse eines Filmemachers" von 1959, an der sich (wie auch bei den Interviews) erkennen lässt, wie schwer ihm selbst der freie Umgang mit der Sprache fiel.

Konzentration

Zweierlei fällt an diesem Buch sofort auf. Das eine: Alles ist auf diesen einen Mann konzentriert, jede Schauspielerin, jeder Toningenieur, jedes Skript, jedes Landschaft dient. Ihm. Und das andere: Dieser Mann ist Handwerker und Impresario, Künstler, Werbemann und Veranstalter in einem. Er ist der Direktor einer Truppe von Wanderschauspielern, der nicht vor, sondern hinter der Kamera die Rolle des Ersten Liebhabers spielt.

Und dieser Mann verfügt offenbar wiederum über zwei Eigenschaften. Die eine: Er gibt den Menschen (und vor allem: den Frauen), denen er begegnet, das Gefühl, auserwählt zu sein. Und die zweite: Ihm graut vor nichts, es kommt alles hinein in sein Werk, das Hohe und das Triviale, seine Liebschaften und seine Familiengeschichte, seine Wohnungen und seine Erfahrungen mit den Werken anderer Künstler.

Immer ist es wie zu Beginn von "Wilde Erdbeeren" (1957): auf der einen Seite der Realismus der fünfziger Jahre, auf der anderen der frühe Horrorfilm, auf der einen Seite ein Märchen, auf der anderen eine Komödie, und zwischen allem eine schöne Frau. In keinem seiner Filme aus den späten fünfziger Jahren versäumt er, eine nackte weibliche Brust zu zeigen, nicht immer aus dramaturgischer Notwendigkeit.

Und dann legt man das schwere Buch fort, und die Bilder sind noch immer da. Auch das hat zwei Gründe. Der eine: Alle Filmbilder Bergmans, ausnahmslos, sind fotografische Kunstwerke. Jede Szene hat literarische Qualitäten, ist Verdichtung, Kondensat. Der andere: Er behandelt Gesichter, als könne er in jedem einzelnen die Wahrheit einer Existenz einfangen, indem er sie anschaut -- nicht deutet, sondern nur anschaut.

Traumgesichter

Es gibt viele Gesichter bei Ingmar Bergman, und in ihnen lassen sich, ohne dass man einen Augenblick nachdenken müsste, die großen Motive seines Werks erkennen: die Angst in den Augen Max von Sydows, der als Ritter im "Siebenten Siegel" ausschaut, als wäre er einem Gemälde El Grecos entstiegen; die Erinnerung an ein langes, zumindest halb vergeudetes Leben in den traurigen Falten Victor Sjöströms in "Wilde Erdbeeren", die hoffnungslose Einsamkeit auf den Lippen Ingrid Thulins im "Schweigen" (1962), die Verzweiflung in den verlaufenden Zügen Liv Ullmanns in "Von Angesicht zu Angesicht" und die Ergebenheit im niedergeschlagenen Blick von Ewa Fröling in "Fanny und Alexander".

Jedes dieser Gesichter hat etwas von einem Standbild. Aber erst der Film verleiht ihnen die Unentrinnbarkeit von Traumgesichtern, die man nicht abschütteln kann. Ingmar Bergman weiß das, und wenn man in diesem Buch die Fotografien sieht, die den Regisseur bei der Arbeit am Set zeigen, ahnt man, wie er diese Gesichter schuf: Indem er sie ausstellte, ins Licht hob vor dunklem Grund, so dass sie den Antlitzen von mittelalterlichen Heiligen zu ähneln begannen, wie Ingmar Bergman sie gesehen haben mag, wenn er seinem Vater, dem Pfarrer, zu Predigten in Landkirchen folgte - von Gesichtern, die eher leere Zeichen sind als entwickelte Charaktere.

Es sind alte Gesichter, wie sie in der Malerei des Expressionismus und im Stummfilm ein spätes Asyl gefunden hatten. Es gibt an ihnen kein Unterbewusstes und keine Entfremdung zu entdecken, nur die unendliche Mühe, die es sie zu kosten scheint, "ich" zu sagen.

Ingmar Bergman starb im Sommer vergangenen Jahres, in diesem Sommer wäre er neunzig Jahre alt geworden. Das letzte Gefühl, das dieses Buch auslöst, ist das Vermissen. Doch, jetzt fehlt einer, der Direktor einer mit bescheidenen Mitteln arbeitenden Truppe von Wanderschauspielern. Denn die einfachen Themen sind alle da, die Lust und die Einsamkeit, die Gier und die Verschwendung, die Neugier und der Tod. Aber es gibt keinen mehr, der ihnen so rückhaltlos vertrauen würde - wie den Gesichtern.

Paul Duncan, Bengt Wanselius (Hrsg.): The Ingmar Bergman Archives. Taschen Verlag, Köln 2008. 592 Seiten, eine DVD, 150 Euro.

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