Buch-Trend: Graphic Novels:Bestseller in kleinen Bildern

Sperrige Literatur leichtgemacht: Literarische Comics und Graphic Novels erobern den Buchmarkt. Illustrierte Weltbestseller sollen Leser an schwierige Klassiker heranführen - aber sie schaffen weit mehr als das.

Fritz Göttler

Rattengift . . . irgendwann hängt das Wort bedrohlich über dem Städtchen Bailleville in der Normandie, über denen zumindest, die von dem stillen Drama wissen, das sich in dem einsamen kleinen Haus in der Umgebung gerade entwickelt. Wenn die Zeichen nicht trügen, müsste die junge Frau dort in Kürze sich das Leben nehmen mit Rattengift.

Comic: Weltbestseller in Bildchen

Szene aus der Graphic Novel Gemma Bovery.

Bovery heißt sie nämlich, Gemma Bovery, und sie hat ihrem literarischen französischen Vorbild bisher erschreckend konsequent nachgelebt, sie ist mit ihrem Mann - Charlie! - aus London gekommen und hat das Haus gekauft als Inbegriff ihrer Träume eines neuen Lebens, dann hat sie sich doch gelangweilt und einen jungen Liebhaber gehabt und schnell viele Schulden gemacht . . . man kennt die Geschichte, ihren Ausgang. Wenn Gemma sich mit ihrem Namen vorstellt, löst sie bei jedem Franzosen die gleiche Reaktion aus - sie selber ist immer etwas langsam: Ach ja, Bovary, natürlich, dieser Film, nein Moment, der Roman . . .

Gemma Bovery ist eine grandiose Graphic Novel der britischen Zeichnerin Posy Simmonds, die von Flauberts Roman handelt und einer Wiederkehr seiner Heldin in ironischer, trauriger, manchmal auch schauriger Manier - und damit weit über eine reine "Illustrierung" eines Stücks Weltliteratur hinausgeht, den Comic zu einer ganz eigenen, reflektierten, intellektuellen Form gemacht hat.

Sie ist nun auch auf Deutsch erschienen, gut ein Jahr nach dem anderen Literatur-Buch von Posy Simmonds, Tamara Drewe, das inspiriert war von Thomas Hardys Am grünen Rand der Welt (beide Comics im Reprodukt Verlag). Der deutsche Markt ist ziemlich hinterher, was solch hochklassigen Spiele mit der großen Literatur angeht, Gemma erschien bereits 1999 als Buch, Tamara startete 2005 als wöchentliche Serie im Guardian, kam 2007 als Buch heraus. Inzwischen hatte es auch eine Verfilmung von Stephen Frears gegeben, mit Gemma Arterton als Tamara.

Seit ein, zwei Jahren ist nun auch bei deutschen Verlagen das Verlangen nach literarischen Comics intensiver gewordenn. Knesebeck bringt endlich die Version von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Stéphane Heuet heraus - seit 1998 arbeitet er daran, fünf Bände sind bisher erschienen, zwei bislang auf Deutsch -, legte außerdem Kafkas Verwandlung vor, albtraumhaft zusammengesponnen von Eric Corbeyran und Richard Horne. Aktuell erscheint auf Deutsch Martin Rowsons Tristram Shandy (von 1996!).

Klassiker als Powerpoint-Präsentation

Man kann in diesem Herbst einige Weltbestseller in Comic-Form haben - Khaled Hosseinis Drachenläufer, von Fabio Celoni und Mirka Andolfo, im farbstarken, kräftig konturierten französischen Stil (Bloomsbury), oder sensibelste Literatur - voriges Jahr sorgte Schnitzlers Fräulein Else in der Visualisierung von Manuele Fior für Furore (Avant-Verlag).

Auch deutsche Comics gibt es inzwischen, gestaltet nach Brigitte Kronauer, Goethe oder E. T. A. Hoffmann - ein Fräulein von Scuderi von Alexandra Kardinar und Volker Schlecht (Edition Büchergilde). Selbst Suhrkamp steigt jetzt bei Comics ein, mit Thomas Bernhards Alte Meister, von Nicolas Mahler bearbeitet, Walser oder Handke sind geplant: Literaturvermarktung mit pädagogischem Effekt.

Der Verlag sieht es als einen Versuch, Leser an schwierige, sperrige Literatur heranzuführen. Das war auch die Intention beim Start dieser populären Literaturform in Amerika, den berühmten Classic Comics und Classics Illustrated der Vierziger in den USA. Das multikulturelle, vielsprachige Amerika nutzte die Comics - wie auch das Kino -, um eine von der Sprache nicht abhängige nationale Kultur zu schaffen.

Ganz in der Tradition dieses großen Projekts klingt die Absichtserklärung beim Fräulein von Scuderi, da wird von Lust und Ehrgeiz gesprochen, "das Merkwürdige und Eigene des Textes und der geschriebenen Sprache in eine autonome Bildsprache zu übersetzen - ohne den Text sklavisch im Bild nachzuahmen, dem Geist und der Stimmung aber doch gerecht zu werden".

Die Autonomie des entstandenen Comics könnte dann wirklich nicht größer sein - er kombiniert Teile des Hoffmann'schen Textes mit allen denkbaren Mitteln modernen Kommunikationsdesigns - das haben die beiden Autoren studiert. Eine wilde Collage mit markanten Schrifttypen, Schlagzeilen, modernen Signets, Inserts zur sozialen Situation im 17. Jahrhundert - Polizei- und Überwachungswesen, Aderlass, Spielsucht. Eine Powerpoint-Präsentation, die all das aufbietet, was in historisch-kritischen Ausgaben gemeinhin der Kommentar erledigt.

Wüst geht es auch in Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence Sterne zu, wo Martin Rowson in den Textteilen, die er von Sterne übernahm (Übersetzung Michael Walter), plötzlich ein merkwürdiges apokryphes Paar eindringen lässt, einen weiteren "Autor" mitsamt einem bewährten Hunde-Adlatus.

So wird das Ganze zum Meta-Meta-Buch - und dem berühmten Sterne, der schon kühn das eigene Erzählen reflektiert, wird von den neuen Kollegen bedeutet, "dass auch wir kontrolliert & kräftig umrühren im fiktiven Kessel mit dem dampfenden Brei aus Verfremdung und ähnlichem Zeug". Der Leser muss dann schaudernd durch eine unerwartete Martin-Amis-Horror-Alternativwelt des Buches, entdeckt Spuren von D. H. Lawrence und von T. S. Eliot.

Lustvolle Recherche bestimmt auch das Proust-Projekt von Stéphane Heuet - er sucht für seine Bände ausführlich nach Bildern, Fotos, Locations, die Proust als Vorbild dienten in seiner "Recherche". Und findet dabei sogar Vorbilder, die Proust nicht wirklich gehabt hatte - den Komponisten Alkan zum Beispiel, der den Beschreibungen nach das Vorbild hätte sein können für den Komponisten Vinteuil in der "Recherche" und deshalb in Heuets Band leibhaftig auftreten darf.

Weit übers Erzählen geht dieses neue Comic-Genre hinaus, es wird von Martin Rowson ironisch, aber eindeutig benannt, als "visuelle Dissertation".

So werden Texte, die so etwas wie frühe Dekonstruktion betrieben - Jahrzehnte und Jahrhunderte, bevor es den Begriff gab - im Comic ein weiteres Mal dekonstruiert. Die dichtesten der neuen Graphic Novels erforschen über ihre Textvorlagen das szenische Potential der Sprache, die Inszenierung, die sie betreibt, wie sie Räume und Beziehungen baut und dadurch Bedeutung schafft.

Nicolas Mahler lässt in Alte Meister Thomas Bernhards eherne Sätze in den Räumen des Wiener Kunsthistorischen Museums widerhallen, bis die Echos der Einsamkeit fast unerträglich werden. Es ist Inszenierung nicht einer Handlung, einer Intrige, sondern Inszenierung des einzelnen Augenblicks, und wie im Augenblick die Geschichte sich manifestiert, die zu ihm führte.

Die berühmte Szene, mit der Walter Benjamin die Situation des epischen Theaters charakterisiert, im Hinblick auch auf die Darstellungen des Kinos, gilt erst recht für den Comic: "Eine Familienszene. Plötzlich tritt ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um nach einem Schutzmann zu rufen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. 'Tableau' - wie man um 1900 zu sagen pflegte."

Bei Heuet und Fiore, Rowson und Kardinar/Schlecht wird die Inszenierung manchmal sogar zur Installation - in diesem Sinne sind die neuen Comics Produkte der Zeit, dem Internet verhaftet, in dem alles nebeneinander und gleichzeitig besteht, vorläufig und punktuell ist und immer aufs Neue weiterverarbeitet werden kann.

Nur bei Posy Simmonds hat die Kunst der Collage noch einmal formierende Kraft bekommen, ihre Bücher sind gewissermaßen konstruktive Dekonstruktion. Traditionelle Fortsetzungsromane, mit klassischen Sprechblasen, aber auch langen Textpassagen, Tagebuchauszügen, Briefen, Zeitungsausschnitten, Fotos.

Selten hat es in der Literatur der jüngsten Zeit ein so komplexes Gebilde von Reflexionen und Projektionen gegeben wie Gemma Bovery, ein derart sinnliches wie intellektuelles Konstrukt von Perspektiven. Die Figuren hier stehen alle unter Beobachtung, nicht zuletzt durch sie selbst.

Gemma, das Boheme-Girl aus London, das sich radikal und schmerzhaft neu erfinden muss, hat am Ende nicht die Radikalität der Madame Bovary. Ihre Augen sind groß und leer, und immer ist ihr Blick - wie bei Princess Diana - ins Abseits gerichtet, nicht fokussiert, sich dem Gegenüber verweigernd. Es ist ein schönes Buch der women's liberation, der Befreiung einer Frau vom Diktat der Männer, ihrer Blicke und ihres Verlangens. Und von dem Roman, der ihr Leben determiniert.

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