Buch "Suite Francaise":Geschichte aus dem Koffer

Französisches Echolot: 62 Jahre nach dem Tod von Irène Némirovsky taucht das Romanfragment "Suite Francaise" auf.

Irène Némirovsky saß in der Falle im Idyll, in Issy-l"Eveque, einem Nest im Morvan, tief im Herzen des Burgund. Sie wusste, dass es für sie als staatenlose Jüdin von hier aus nicht weitergehen würde, ihre Töchter hatte sie längst einer "arischen" Pflegemutter übergeben, sie selbst ging jeden Tag außer Haus, oft suchte sie stundenlang einen geeigneten Platz zum Schreiben, und am 12. Juli 1942 notierte sie: "Ich sitze auf meinem blauen Sweater inmitten eines Meeres verfaulter, vom Gewitter der letzten Nacht durchweichter Blätter wie auf einem Floß, die Beine unter mir angewinkelt." Das ist das letzte Bild, das es von ihr gibt: sie allein im Wald mit ihrem Manuskript, von dem sie wusste, dass es ein großer Roman werden könnte, wenn sie nur die Zeit hätte, ihn zu vollenden.

Irène Némirovsky

Ein Opfer des Holocaust: Irène Némirovsky.

(Foto: Foto: AFP)

Am Tag danach holten französische Polizisten Irène Némirovsky ab. Sie wurde mit dem Konvoi Nr. 6 nach Auschwitz deportiert, wo sie am 17. August 1942 an Typhus starb. Ihr Mann schrieb noch im September an Marschall Pétain, dass seine Frau doch immer gegen die Kommunisten gewesen und außerdem von zarter Konstitution sei, weshalb er um Erlaubnis bitte, sie in einem Lager ersetzen zu dürfen. Daraufhin wurde er nach Auschwitz deportiert und sofort vergast. Denise und Elisabeth, die beiden Töchter der Némirovskys, wurden von ihrer Pflegemutter in Kellern, Scheunen und Klöstern versteckt und hatten die ganze Zeit über einen Koffer mit Fotos, Familienpapieren und dem Manuskript bei sich, das der älteren Tochter Denise in den Nächten als Kopfkissen dient.

Auf dem Teller der Verräter

Das erste, 240 Seiten lange Kapitel müsste der Traum eines jeden Kameramanns sein: Nicht enden wollende Fahrten durch die Lüfte, durchs Gewimmel der panischen Menschen. Juni 1940, die deutschen Truppen stehen vor Paris, die Menschen wälzen sich aus der Stadt, in einem der größten Staus der Verkehrsgeschichte werden sie alle durcheinander geschoben, Arbeiter, Angestellte, Fabrikbesitzer, arrogante Schriftsteller, geizige Porzellansammler, das einfache Ehepaar Michaud, sie alle versuchen, wegzukommen, und die Erzählerstimme schwebt über ihnen allen wie der Wind, ein Tolstoischer Demiurg, der sie alle immer wiederfindet: die Michauds, den Priester Philippe, der eine Klasse Waisenkinder in Sicherheit bringen soll, und Philippes Mutter, Madame Péricand, bigotte Christin und bitterböse Bourgeoise, die anfangs noch meint, Krieg bedeute einen improvisierten Landausflug, weshalb sie ihre Kinder dazu anhält, den Kandiszucker mit anderen Familien zu teilen.

Einen Tag später ist aller zivilisatorische Zierrat von ihr abgefallen, sie hält so gierig ihren Besitz und die Kinder fest, dass sie ihren verwirrten, sterbenden Schwiegervater in einem Dorf vergisst. Einem herbeizitierten Notar diktiert der Alte sein Testament: "Wenn der Krieg zu Ende sein wird..." Er meint den Krieg von 1914, la Grande Guerre.

1914. So wie der umnachtete Schwiegervater scheint das ganze Land festzuhängen an dieser Chiffre für den letzten Sieg der Grande Nation, die Zahl wird wiederholt wie ein Fetisch und Schutzmantra. Keine der Figuren scheint auch nur zu ahnen, was dieser neue Krieg für Europa bedeuten würde. Sie selbst, Irène Némirovsky, macht sich zu dem Zeitpunkt keine Illusionen über ihr Schicksal. "Ich habe meinen Füller verloren, doch es gibt auch noch andere Sorgen wie z.B. drohendes Konzentrationslager", schreibt sie lapidar im Juni 1941.

Als Tochter eines russischen Bankiers wird Irène Némirovsky 1903 in Kiew geboren. Der Vater war in den Kasinos unterwegs, die Mutter begegnete Irène mit blankem Hass, weil diese sie an ihre Vergänglichkeit erinnere. Die Familie flieht vor der Revolution nach Paris, wo Némirovsky mit ihrem Roman ¸¸David Golder" sofort Erfolg hat. 13 Bücher folgen bis Kriegsausbruch, elegante, zuweilen etwas cremige Salonromane, die Jean Cocteau sehr liebt, und in denen sie die Freiheit beschwört, sich aller verordneten Gruppenzugehörigkeit zu verweigern. Als Tochter assimilierter Juden fühlt sie sich als Französin, ja sie identifiziert sich noch 1942, als sie sich mit ihrem gelben Stern zum Schreiben in den Wald zurückzieht, in ihrem Tagebuch so stark mit einer ihrer Figuren, dem Soldaten Jean-Marie, dass sie schreibt: "Ich will gerne sterben, aber als Franzose und denkender Mensch, ich will verstehen, warum ich sterbe, und ich, Jean-Marie Michaud, ich gehe für Henriot und Laval (Propagandist bzw. Chef der Vichy-Regierung, Anm. d. Red.) zugrunde, so wie ein Huhn abgeschlachtet wird, um auf dem Teller dieser Verräter zu landen."

Das zweite Kapitel, "Dolce" überschrieben, beschreibt das Zwielicht nach dem Debakel, den Beginn der Besatzung. Die Deutschen, im ersten Teil eine ferne Kriegsmaschinerie, Flugzeuge, die über den ameisengleich herumirrenden Franzosen ruhig über den Himmel ziehen, werden zu einzelnen Soldaten, die sich im Dörfchen Bussy bei Familien einquartieren und Namen und Gesichter bekommen. Sie wirken nett, auf Abenteuerurlaub, singen wehmütige Lieder, helfen den Frauen, und Némirovsky geht mit ihnen fast weniger hart ins Gericht als mit ihren Landsleuten und deren Nickligkeiten, dem Wegducken, Sticheln und dem kleinen Verrat, der eine der Figuren seufzen lässt: "Wenn man bedenkt, dass niemand es erfahren wird, dass es mit einem solchen Lügengespinst umwoben werden wird, dass es am Ende als ein weiteres ruhmvolles Kapitel der Geschichte Frankreichs erscheinen wird."

Krieg als Live-Mitschnitt

Ab Juni 1940 darf Némirovsky nicht mehr publizieren, ihr Mann wird von seiner Bank entlassen. Zunächst ist sie davon überzeugt, dass ihre Verbindungen zur Verlagswelt ihr helfen werden. Aber die zuvor gefeierte Jetset-Autorin wird sofort fallengelassen. Nur Albin Michel hält zu ihr. Vielleicht liegt es auch an diesem Schock, dass ihr die großbourgeoisen Charaktere teilweise derart schäbig geraten, dass sie an ZDF-Chargen erinnern, die viel zu grell geschminkt in diesem ansonsten so großartig realistisch wirkenden Tableau herumstehen.

"Mein Gott", schreibt sie in ihrem Tagebuch, "was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts, schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert." Kalten Bluts? Ganz und gar nicht. Sie verlagert ihre Empathie nur in die genaue Beschreibung ihrer Figuren, die so blind durch dieses Chaos irren wie Stendhals Fabrizio durch die Schlacht von Waterloo. Vichy, Pétain, die Demarkationslinie, all die historischen Begriffe kommen mit keiner Silbe vor. Némirovsky konzentriert sich auf den unendlichen Alltag rechts und links daneben, eine zerbombte Straße in Tours, Hühner auf der Dorfstraße von Bussy im Abendlicht. Am 2. Juni 1942 schreibt sie in ihr Notizbuch: "Nie vergessen, dass der Krieg einmal zu Ende ist und der ganze historische Teil verblassen wird. Versuchen, soviel wie möglich zu beschreiben, Debatten, die noch im Jahre 1952 oder 2052 die Leute interessieren können." Ihr ästhetisches Kalkül ist aufgegangen, Némirovsky hat mit ihrem detailgenauen Panorama den wichtigsten, den ehrlichsten Roman über das besiegte Frankreich geschrieben. "Suite Francaise" war die Sensation des vergangenen Jahres in Frankreich, es wurde mit Balzacs "Comédie Humaine" verglichen und mit Anne Franks Tagebuch, was insofern befremdlich ist, als nicht ein einziger Jude darin vorkommt.

Fünf Kapitel sollte ihre "Suite Francaise" am Ende haben, zwei konnte sie fertigstellen. Die drei übrigen Teile tragen im Tagebuch die Überschriften "Gefangenschaft", "Schlachten" und "Frieden". Immer wieder schreibt sie bei ihren Handlungsskizzen zu den Charakteren ¸¸je nachdem was die Realität vorgibt" oder "wenn das Ende 42 noch möglich ist", was einem erst wieder ihr verrücktes Projekt in Erinnerung ruft: den historischen Roman als Live-Mitschnitt.

Nach dem Krieg, de Gaulle hat den Franzosen die Lüge von der heroischen Selbstbefreiung und dem kollektiven Heldentum geschenkt, steht Nemirovskys Manuskript stumm im Bücherschrank ihrer Tochter Denise, "wie eine Reliquie". Sie bringt es nicht fertig, es zu lesen. Erst 1996 beschließt sie, es einem Archiv zu vermachen. Vorher möchte sie es für ihre Kinder abschreiben. Ihre Mutter hatte das mangelhafte Kriegspapier mit winzigen, schräg dahinhetzenden Buchstaben bedeckt, ihre Tochter braucht mit einer Lupe zwei Jahre für die Abschrift. Und merkt dabei erst, dass Irène Némirovsky einen riesigen Roman geschrieben hat, eine Art Tolstoisches Echolot, das kakophone Stimmengewirr im Moment der so erbärmlich stümperhaften Niederlage.

Glücklicherweise hat Denise Némirovsky dem Buch die Tagebucheinträge ihrer Mutter beigefügt und einen Teil der Korrespondenz zwischen ihr und dem Verleger Michel Albin, der zunächst sie selbst und dann ihre Töchter so treu unterstützte. Auf der letzten Seite ihrer Aufzeichnungen schreibt sie: "Was bleibt: 1) Unser bescheidenes tägliches Leben 2.) Die Kunst 3.) Gott".

IRÈNE NÉMIROVSKY: Suite française. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Knaus Verlag München 2005 511 Seiten 22,90 Euro.

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