Buch: Auch Deutsche unter den Opfern:Mehr so Grundmoräne

Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt wieder einmal über die Inszenierung des Polit-Zirkus: Das ist keinesfalls weltbewegend - und trotzdem liest man es gern.

Lars Weisbrod

Als vor fast zehn Jahren Benjamin von Stuckrad-Barres Deutsches Theater erschien, war die Idee dahinter schon nicht mehr die neueste: Politik, das öffentliche Leben, überhaupt alles als Theater zu betrachten, es auf seine Inszenierung hin zu untersuchen, dieser Arbeitsansatz ist vermutlich so alt wie das Theater selbst, wenn nicht sogar noch älter. Dem Buch vorangestellt war ein Zitat des Soziologen Erving Goffman: "Der ganze Apparat der Selbstinszenierung ist natürlich umständlich, er bricht manchmal zusammen und enthüllt dann seine einzelnen Bestandteile: Kontrolle über die Hinterbühne, Ensembleverschwörung, Publikumstakt usw." Von der Faszination, die von solchen Inszenierungszusammenbrüchen ausgeht, lebten Stuckrad-Barres Texte.

Auch Deutsche unter den Opfern

Stilkritik der Politik: In Stuckrad-Barres neuem Buch stehen Inszenierung und Zusammenbruch im Mittelpunkt.

(Foto: Foto: Verlag Kiepenheuer & Witsch)

Theatervariante Wahlkampf

Nachdem 2008 bereits Deutsches Theater in einer erweiterten Neuauflage herausgegeben wurde, ist nun Auch Deutsche unter den Opfern erschienen, das deutlich als Fortsetzung des Projektes kenntlich gemacht wurde, Format und Satz, die Zusammenstellung von Fotos und Texten gleichen sich, wieder sind bereits veröffentlichte literarisch-journalistische Stücke gesammelt, die, ein kleiner Unterschied, Stuckrad-Barre mittlerweile exklusiv für Publikationen aus dem Springer-Verlag verfasst.

Im Mittelpunkt steht aber immer noch die Inszenierung und ihr Zusammenbruch: Besucht hat Stuckrad-Barre für seine Reportagen und Porträts kleinere und größere öffentliche Veranstaltungen, die Eröffnung eines Outlet-Centers in Brandenburg ebenso wie die geschichtsträchtige Pressekonferenz der SPD am Schwielowsee. Das liebste Untersuchungsfeld ist ihm, wie allen Inszenierungsbeobachtern, aber immer noch der Wahlkampf, gleich in neun Texten widmet er sich dieser Variante des Theaters.

Mit dem Ohr dranbleiben

Statt eines Goffman-Zitats findet man am Anfang des Buches nun ein Vorwort des mit dem Autor befreundeten Regisseurs Helmut Dietl: "Es gab mal einen Werbeslogan für Bayern 5", schreibt Dietl, "der dazu aufforderte, mit dem Ohr unentwegt dranzubleiben, 'denn in fünfzehn Minuten kann sich die Welt verändern'. Kann sein, wenn wir öfter mal, möglichst alle Viertelstunde, einen Nine-Eleven oder einen Tsunami hätten." Haben wir aber nicht, ist damit wohl gemeint, und deswegen spielt die Öffentlichkeit in der Zeit zwischen Nine-Eleven und Tsunami-Theater.

Stuckrad-Barre hat aus dieser Not eine Tugend gemacht: Weil man als Journalist dauernd zu Terminen kommt, wo schon alles durchchoreographiert und -inszeniert ist und wo die Anzahl der Journalisten und Pressereferenten die Anzahl derer übersteigt, über die zu berichten gewesen wäre, schreibt Stuckrad-Barre stattdessen einfach über die anderen Journalisten und die Inszenierung, die sich ja dann am besten erkennen lässt, wenn sie gerade einen kurzen Aussetzer hat.

Weder jünger noch origineller

Diese Idee war ein einfacher Ausweg, aber sie wurde in den letzten zehn Jahren natürlich weder jünger noch origineller. Eher im Gegenteil: Es regt sich sogar Widerstand. "Anstatt tatsächlich politische Analysen, so schwierig diese gerade aktuell auch sein mögen, zu versuchen", schreibt beispielsweise der Journalist Daniel Erk, "begnügen sich immer mehr Beobachter mit einer Art Stilkritik der Politik - man betrachtet die Inszenierung und mutmaßt über die Auswirkungen."

Es droht die Inflation der Inszenierungskritik: Machen es nicht mittlerweile zu viele genauso wie Stuckrad-Barre und sie es sich damit nicht zu leicht? Sollten man nicht statt so schnell die weiße Fahne zu schwenken lieber genauer suchen und dann dahin gehen, wo es wirklich etwas zu berichten gibt?

Eine These auf wackeligen Beinen

Dass angesichts dieser Bedrohungslage Auch Deutsche unter den Opfern trotzdem funktioniert, liegt daran, dass Stuckrad-Barre immer noch die Fähigkeit besitzt, seine Inszenierungskritik so aufzuschreiben, dass der Leser ganz vergisst, dass dahinter ja eine große These auf etwas wackeligen Beinen steht - vielleicht ist es das, was Dietl meint, wenn er im Vorwort das große poetologisch-epistemische Fass aufmacht und davon spricht, dass die Wahrheit doch eher im Stil des Gesagten oder Geschriebenen liege als in dessen Inhalt.

Am Titel des Buches kann man bereits festmachen, wie das funktioniert: Dass scheinheiliger Katastrophenjournalismus als eine der ersten Fragen stets zu beantworten versucht, ob sich auch Deutsche unter den Opfern befinden, ist natürlich selbstentlarvend, aber als Beobachtung so bekannt, dass es höchstens noch für moralinsaure Medienkritik im Kabarett taugt. Aus dem Zusammenhang gerissen und zum Buchtitel überhöht, gewinnt das Satzfragment dann aber so viel, dass die Inszenierungskritik irgendwo im Hintergrund verschwindet.

Während Stuckrad-Barre Angela Merkel auf Wahlkampftour im Nostalgiezug begleitet, hat er kurz die Gelegenheit, ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin zu führen. Was ihre persönliche Sehnsuchtslandschaft sei, fragt er, inspiriert vom Blick auf den Fenstern des Panoramawaggons, und Angela Merkel antwortet: "Leicht wellig. Mehr so Grundmoräne." Wer traut sich angesichts dieses poetischen Bekenntnisses noch, die Frage aufzuwerfen, ob man denn nicht hätte Wichtigeres besprechen können oder sogar müssen, wenn man die Gelegenheit hat, Angela Merkel zu interviewen?

Nicht neu, aber funktionstüchtig

Dabei verlässt Stuckrad-Barre sich sprachlich auf Altbewährtes: Die öffentliche Großzelebrierung und Heraufbeschwörung von Bedeutsamkeit referiert er im Tonfall des routinierten Beobachters, der sich aber, das ist entscheidend, selten wirklich schmerzhaft langweilt. Eher scheint er sich in der Routine ein wenig zu Hause zu fühlen. "Aber zuvor wird noch ins All gewinkt", heißt es, wenn Angela Merkel auf einer Veranstaltung ihr kurzes Gespräch mit der Internationalen Raumstation beendet - und in ihrer anschließenden Rede spricht sie nicht über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte, sondern sie "redet noch ein bisschen über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte."

Das unpersönliche Passiv, das eingefügte "ein bisschen", sie sind Stuckrad-Barres Waffen: nicht mehr ganz neu, aber immer noch funktionstüchtig. Vor allem aber zielt er mit ihnen nicht auf die öffentlichen Personen, um sie als böswillige Inszenierer zu enttarnen. Die Inszenierung erscheint als systembedingte Notwendigkeit, ihre Darsteller sind nicht von vorneherein unsympathisch, auch weil man ein wenig Mitleid für sie hat, dass sie da mitmachen müssen. Eine Ausnahme ist hier Günter Grass, gegen den Stuckrad-Barre einen persönlichen Groll hegen muss, der ihn diese lobenswerte Grundeinstellung vergessen lässt.

"In der Regel hinkt man ja der Weltgeschichte hinterher mit seinem eigenen mickrigen Leben. Durch einen Zufall ist man vielleicht mal wirklicher Augenzeuge eines weltbewegenden Ereignisses", sagt Stuckrad-Barre in einem Gespräch mit Alexander Kluge, das am Ende von "Auch Deutsche unter den Opfern" wiedergegeben wird.

Reine Faszination

Das ist so wahr, wie es trivial ist. Ein paar Seiten zuvor noch berichtet der Autor vom Bundestagswahlabend im Willy-Brandt-Haus: Dort übergibt sich vor Bekanntmachung der ersten Prognose ein Mann plötzlich auf den Fußboden der Parteizentrale. Der Mann bestellt sich daraufhin am Bierstand ein neues Pils und, weil Hektik und Sorge herrschen, bemerkt niemand das Malheur: Alle laufen telefonierend durch das Erbrochene und verteilen es mit ihren Schuhen im gesamten Willy-Brandt-Haus.

Zeuge dieses Ereignisses wird Stuckrad-Barre zwar zufällig, weltbewegend ist es natürlich keinesfalls. Es verrät auch nichts über den Zustand der SPD, die Gemütslage der Berliner Republik oder die parlamentarische Demokratie an sich. Und trotzdem liest man es gern, wenn Stuckrad-Barre es aufschreibt, aus reiner Faszination für den Zusammenbruch der Inszenierung.

BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE: Auch Deutsche unter den Opfern. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 335 Seiten, 14,95 Euro.

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