Süddeutsche Zeitung

Brüsseler Musiktheater:Riesenbaby im Morgenmantel

Lesezeit: 3 min

Krzysztof Warlikowskis Version von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" spielt mit dem Typus Harvey Weinstein.

Von Michael Struck-Schloen

Die Traumfabrik ist schwer angezählt. Alkohol, Drogen und Sex gehörten schon immer zur überdrehten Scheinwelt Hollywood; und mit dem Harvey-Weinstein-Skandal geriet das einstige Macho-Reservat auch noch in den Strudel der Belästigungs- und Gleichstellungsdebatte. Da ist es fast ein Gebot der Stunde, dass die Titelfigur aus Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" im Brüsseler Musiktheater La Monnaie nicht mehr ein Dichter ist, sondern ein Filmproduzent. Eric Cutler, ein baumlanger Kerl aus Iowa mit Tattoos auf den Oberarmen und einem markanten, konditionsstarken, aber nicht ganz so verführerischen Tenor, spielt diesen "Harvey" Hoffmann: ein Riesenbaby im Morgenmantel, das die Umwelt, die ihn anekelt, mit Kleenex-Tüchern abwischt, andererseits immer auf der Suche nach der guten Story und dem heißen Kick ist.

Beides verschaffen ihm die Frauen - womit auch der Regisseur Krzysztof Warlikowski in seinem Element ist. In vergangenen Operninszenierungen in München und Brüssel hat Warlikowski immer wieder untersucht, ob Männer und Frauen mehr verbindet als Geschlechterklischees. Bei Hoffmann, der sich gern an der Bar mit mehreren Whiskys das Hirn wegbläst, fehlt es nicht an Klischees, wohl aber an Mitleid mit den Frauen. Die können noch so sexy in schwarzer Unterwäsche und Designerkleidern daherkommen wie Michèle Losier, die der "Muse" ihren geschmeidigen, kühl glänzenden Mezzosopran verleiht - Hoffmann findet Musen eh langweilig und allenfalls als Skriptgirl brauchbar.

Mehr interessiert ihn das Kaputte, Leidende, Verworfene - Eigenschaften, die Offenbach in die Automatenfrau Olympia, die todessüchtige Sängerin Antonia und die Edelkurtisane Giulietta hineinprojiziert hat. Aber anders als im Libretto von Jules Barbier empfindet Hoffmann die böse endenden Beziehungen nicht als Scheitern, sondern als Chance, aus den körperlichen und seelischen Qualen die ganz große Geschichte zu saugen.

Patricia Petibon, die alle drei großen Frauenrollen singt, ist das Herz der Aufführung

Das Medium selbst ist also die Botschaft, nicht die Psychologie des Künstlers oder gar das Leben. Deshalb ist auch der Schauplatz furchtbar leblos: Warlikowskis Ausstatterin (und Ehefrau) Małgorzata Szczęśniak hat auf die Brüsseler Bühne ein Filmstudio samt falsch glitzernder Bar gestellt, hinter der Hoffmanns Widersacher Lindorf die Cocktails mixt - wobei Gábor Bretz immer mehr zum grotesk geschminkten, aber zahnlosen Joker mutiert. Mikrofone schweben herab, wenn der Chor in Lederjacken und Schlaghosen der Achtziger seine Lieder schmettert. Bandmaschinen laufen, wenn Hoffmann die schwindsüchtige Antonia verführt. Eine Videokamera hält den Mord an Schlemihl fest und krallt sich gnadenlos in die frische Wunde. Testaufnahmen von Frauen zeigen die immer gleiche Anmache, die lächerliche Pose, das urtraurige Lächeln.

Warlikowskis Blick auf soziale Kälte und verkrüppelte Persönlichkeiten durch die Brille eines schon nostalgischen Hollywoods ist keine ganz neue Idee und würde sich über dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer wohl totlaufen, wäre da nicht Patricia Petibon.

Sie, die alle drei großen Frauenrollen singt, ist das Herz der Aufführung - ein szenischer Magnet als urkomische Lacklederpuppe Olympia, als lockende Demimonde oder Kim-Novak-Abklatsch im Antonia-Akt. Vielleicht klingen Petibons legendäre Sopranspitzentöne nicht mehr ganz so glockig und quietschvergnügt wie ehedem; die dramatische Partie der Antonia schien ihr eine Spur zu gewichtig. Aber wie sie die ohnehin komische Olympia-Arie zu einer minimalistischen Etüde aus lauter lächerlichen Versatzstücken macht, das ist nicht nur intelligent, sondern allerhöchste Gesangskunst.

Alain Altinoglu, soeben bis 2025 als Musikchef der Brüsseler Oper bestätigt, hat darauf hingewiesen, dass sich jeder Dirigent seine eigene Version von "Hoffmanns Erzählungen" zusammenstellen muss. Aus der Feder von Offenbach, der 1880 kurz vor geplanten Uraufführung starb, hat sich zwar keine endgültige Gestalt, aber viel Material erhalten, das seit 2005 in der gemeinsamen Ausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck vorliegt (mittlerweile sind weitere Quellen aus dem Besitz der Familie Offenbach aufgetaucht). Altinoglu entschied sich für eine weitgehend komplette Aufführung des Materials mit den nachkomponierten Rezitativen von Ernest Guiraud, allerdings auch mit einigen Lücken wie im 4. Akt, in dem Dapertutto weder die (nicht authentische) "Diamantenarie" noch das "Jagd"-Couplet singen durfte. Gleichwohl blieb eine überreiche Musik auf der Höhe von Bizet oder Verdi, vom Orchester fein abgeschmeckt und serviert mit französischer Eleganz.

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Quelle:
SZ vom 13.12.2019
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