Bruce Springsteen ist klug - und selbstverliebt - genug, jegliche Nachdenklichkeit in Anbetung umzumünzen. Durch das schon legendäre Ritual des fast immer gleichen Einzählens etwa. Sein "One, two, three. . ." ist Stimulanz fürs fröhliche Volk und wird als Mittel sogar zur Selbstironie, wenn er "My Hometown" tonlos nur mit den auf die Videowände übertragenen Fingern einzählt. Er vertraut ganz seiner Musik und seiner Präsenz und sagt keinen Satz außer, dass er sich beim letzten Konzert an dieser Stelle "den Arsch abgefroren hat". Dabei gäbe es angesichts der Situation in seiner Heimat ja eigentlich schon ein paar Themen, die Springsteen früher wohl nicht unkommentiert gelassen hätte.
Und er vertraut seiner trotz diversen Umstellungen konstant perfekten E-Street-Band. Zum einen hat Springsteen die achtköpfige Bläsersektion, die ihn bei der US-Tour begleitet und dort für einen noch breiigeren Sound gesorgt hat, daheim gelassen. Zum anderen hat er einen wirklich ebenbürtigen Ersatz für den 2011 verstorbenen Saxofonisten Clarence Clemons gefunden. Der heißt Jake Clemons, ist der Neffe von Clarence und seit der Wrecking Ball Tour 2013 mit an Bord. Besser kann eine Nachfolgefrage nicht geklärt werden. Ansonsten teilt sich Bruce Springsteen die Frontline mit den Gitarristen Nils Lofgren, der, wie üblich, auch ein paar Pirouetten beim Solo drehen darf. Und Steven van Zandt, der immer mehr aussieht wie ein Schamane oder - für Kenner - die "Schildkröte" bei Dittsche im WDR.
Bruce Springsteen ist - im Grunde seines Herzens - ein Folkmusiker
Es kommt dann im Olympiastadion zu den üblichen Ritualen der Fanbetreuung. Bei "Waiting On A Sunny Day" darf ein kleines Mädchen auf die Bühne, ebenso später, beim Monsterzugabenblock, ein kleiner Bub namens Bruce, dem man sogar eine Gitarre umhängt zum Duett mit dem großen Bruce. Eine Dame findet Aufmerksamkeit, weil sie laut Schild Hochzeitstag feiert und deswegen mit Bruce (dem großen) tanzen will. Sie darf. Und dann kommt auch noch ein Pappdeckelschild ins Bild, auf dem steht: "Fuck Trump, dance with the Boss". Das war der einzige Kommentar zur Lage der Springsteen-Nation.
Und dann singt, ganz am Schluss, nachdem alle Musiker die Bühne schon verlassen haben, Bruce Springsteen zur Gitarre und Mundharmonika "For You". Es ist ein Lied aus dem ersten Jahr seiner Karriere, von seinem Debütalbum "Greetings from Asbury Park N.Y." Und da wird klar: Bruce Springsteen ist nicht nur der Meister der Powerschlüsse mit minutenlangen Schlusskaskaden, nicht nur der König der Riffs, der bei "Darlington County" sogar Keith Richards seine Reverenz erweist. Bruce Springsteen ist - im Grunde seines Herzens - ein Folkmusiker, ein Apologet von Woody Guthrie, von Pete Seeger und Bob Dylan. Bruce Springsteen ist ein Meisterprediger jenes weißen Mittelschichts-Amerika, das gerade zu implodieren droht. Diese Rolle hätte er in München noch etwas deutlicher ausspielen können.
So aber bleibt das Konzert in Erinnerung als einer jener Springsteen-Abende, an dem es der Wettergott wieder einmal gut gemeint hat mit dem Mann aus New Jersey; und für den einmal eine Kollegin die wunderbare Metapher erfand: Der Himmel färbe sich jeansblau, wenn Bruce Springsteen auf die Bühne komme. Nun, jeansblau wäre diesmal vielleicht etwas übertrieben. Aber regenschirmanthrazit war er schon mal nicht.