Brockhaus am Ende:Wissen, das nie am rechten Ort ist

Brockhaus

Marktführer bis in unsere Tage: Der Brockhaus des Jahres 2013 nimmt sich in Bücherregalen immer noch imposant aus - er ist ja auch eine gute Marke.

(Foto: dpa)

Die Brockhaus-Enzyklopädie, die Mutter aller Nachschlagewerke, wird eingestellt. Bertelsmann gibt seine Lexikonsparte auf. Ein Nachruf auf das gebundene Wissen in 26 Absätzen - von A bis Z.

Von Bernd Graff

A>m Anfang standen eine gewaltige Aufgabe und ein gewaltiger Anspruch: "Der Zweck eines solchen Wörterbuchs", so war in der "Vorrede zum Brockhaus Conversations-Lexikons" im Jahr 1809 zu lesen, "kann auf keinen Fall der sein, vollständige Kenntnisse zu gewähren." Vielmehr wolle man erreichen, dass es "eine Art von Schlüssel sein soll, um sich den Eingang in gebildete Zirkel und in den Sinn guter Schriftsteller zu öffnen." Der geneigte Leser sollte mitreden können, hieß das. Und darum bot man ihm die "wichtigsten Kenntnisse aus der Geographie, Geschichte, Mythologie, Philosophie, Naturlehre, den schönen Künsten und andern Wissenschaften." Eben all das, was "ein jeder als gebildeter Mensch wissen muß, wenn er an einer guten Conversation Theil nehmen oder ein Buch lesen will."

B>ildungswissen also war das Ziel der Lektüre eines Lexikons. Noch im Vorwort zur 11. Auflage des Brockhaus aus dem Jahr 1868 hieß es: Das Conversations-Lexikon hat "die Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse, nicht für die geschäftliche Praxis, sondern für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bildung zur Aufgabe." Man wolle in das Universum des Wissens wie in einen "Mikrokosmos" einführen und nicht "nicht zur Lösung eines wissenschaftlichen Problems oder zur Uebung einer Kunstfertigkeit" beitragen, sondern "um den Menschen als solchen mit der Welt, die über seinen alltäglichen Horizont hinausliegt, bekannt zu machen."

C>harakteristisch ist dieser Bildungsanspruch für jede Enzyklopädie, die seit dem 18. Jahrhundert im großen Stil produziert wurde.

D>as Zeitalter der Aufklärung war das eines großen Erziehungsoptimismusses: Dazu gehörte die Vorstellung, dass man die Welt wissen kann, dass also der menschliche Intellekt und seine Vernunft die Welt rückstandslos erfassen kann, so erfassen, dass sie zwischen Buchdeckel passt - und seien es die 48 einer vierundzwanzigbändigen Ausgabe. Und dazu gehörte, dass Menschen dieses Wissen mit der Lektüre aufnehmen und daraus lernen können. Und sei es, um damit in den Salons der gebildeten Stände eine gute Figur zu machen.

E>s ist damit vorbei bei Brockhaus. Das Verlagshaus Bertelsmann hat gerade bekannt gegeben, dass es seine Lexikonsparte aufgibt. Zunächst soll der Direktvertrieb bis Mitte 2014 eingestellt werden. Die Aktualisierungen, die Online erfolgen, und weitere Verpflichtungen sollen noch sechs Jahre fortgeführt werden. Der Vertrieb über den Buchhandel allein reiche aber nicht zum wirtschaftlichen Überleben aus, hieß es bei Bertelsmann.

F>ast hätte es ja noch geklappt: Bertelsmann hatte die Marke Brockhaus erst 2009 nach der Zerschlagung des Bibliographischen Instituts & F.A. Brockhaus AG gekauft. Der Verlagsgründer Friedrich Arnold Brockhaus hatte das erste Conversations-Lexikon 1810 fertiggestellt. Allerdings hatte Brockhaus sein Conversations-Lexikon 1805 übernommen von dem Gelehrten Renatus Gotthelf Löbel und dem Juristen Christian Wilhelm Franke. Deren zwischen 1796 und 1808 bereits erschienenen sechs Bände ließ er vom Mitbegründer Franke um zwei Nachtragsbände erweitern, die vor allem die Themen der Französischen Revolution mit ihren Folgeereignissen behandelten. Ein unfassbarer Erfolg, der sofort Nachahmer fand.

G>anz dreist erschienen schon bald Raubdrucke dieser Enzyklopädie. Sie stammen von dem Stuttgarter Verleger Carl Erhard, die er in seinem Verlag A. F. Macklot herausbrachte. Ohne Brockhaus' Genehmigung druckte er die 3. Auflage des Conversations-Lexikons nach. Möglich war dies, weil Brockhaus zuerst in Amsterdam, dann Leipzig veröffentlichte und damit in einem anderen Land als in Württemberg. Nachdrucke von "ausländischen" Druckerzeugnissen waren in Stuttgart nicht verboten, es gab kein einheitliches Urheberrecht.

H>onorare für die wissenschaftlichen Mitarbeiter von Brockhaus zahlte der Verlag A. F. Macklot natürlich auch nicht und so konnte ab 1816 "mit Königl. württembergischer allergnädigster Genehmigung" eine preiswertere Ausgabe des Brockhaus in Süddeutschland erscheinen.

I>nzwischen wuchs der Brockhaus aber immer weiter. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die 13. Auflage erschienen, die 14. in 16 Bänden kam ab 1891 nur vier Jahre später. Bis 1913 waren 30.000 Lexika an deutsche Haushalte des Kaiserreichs verkauft worden.

J>a: Bildung besaß einen hohen Wert, und wer etwas auf sich hielt, besaß ein Conversations-Lexikon.

K>rieg und wirtschaftliche Unsicherheiten verhinderten, dass die 15. Auflage, noch 1912 begonnen, bald darauf erscheinen konnte.

L>letztlich vergingen mehr als 30 Jahre, bevor die 15. Auflage des Brockhaus erscheinen konnte. Ab 1928 wurde sie ausgeliefert, insgesamt in 20 Bänden und nun unter dem Titel: "Der Große Brockhaus".

N-Z: "Wahr für alle Zeit"?

M>arktführer blieb die Brockhaus-Enzyklopädie bis in unsere Tage. Die 20. Auflage kam in 24 Bänden ab 1996 auf den Markt, die 21. ab 2005 in 30 Bänden. Erstmals war hier eine DVD beigelegt. Brockhaus musste sich dem Digitalzeitalter stellen, das erst mit Lexikon-CDs für den Personal Computer, dann mit dem Wikipedia-Projekt das Konzept des Buchwissens völlig revolutionierte.

N>ichts Vergleichbares war in den fast zweihundert Jahren enzyklopädischen Wissens zuvor geschehen.

O>hne Online-Anbindung kam keines der früher führenden Häuser mehr aus. Das Wissen aktualisierte sich ständig selber. Wo früher ganze Wissenschaftsstäbe Artikel verfassten und betreuten und das Wissen, das Einzug in die Druckerzeugnisse erhalten durfte, besonders bewertet und gewichtet, als herausragend und "wahr" (am besten: "wahr für alle Zeit") eingestuft hatten, entspann sich mit Produkten wie etwa der Encarta von Microsoft, die früh über Online-Aktualisierungen verfügten, eine Konkurrenz, die Wissen nicht mehr als Konversationsstoff verstand, sondern auf seinen Gebrauchswert hin fasste.

P>raktisch überholt wurde Brockhaus dann von Nachrichten, die das Projekt Wikipedia, eigentlich ein Crowd-Sourcing für Wissen, mit der Güte von etablierten Enzyklopädien verglichen - und Wikipedia für satisfaktionsfähig erklärten.

Q>ualität und Verbürgtheit des Wissens sind demnach nicht mehr Alleinstellungskriterien, die den Kauf einer 24-bändigen Enzyklopädie rechtfertigen. Hinzu kommt aber noch etwas Anderes. Das Statut des Wissens selber hat sich geändert.

R>eichte von Anbeginn an die Befähigung zum Salon-Talk als Begründung für die Enzyklopädie und ihren Erwerb, so nivelliert sich Wissen mit dem Aufkommen von Online- und CD-Enzyklopädien zum Gebrauchswissen, das bei jeder Gelegenheit abrufbar ist. Niemand kann mehr mit den Feinheiten des Raster-Elektronenmikroskops in einem Gespräch brillieren, wenn jeder diese Feinheiten kennen kann. Das, was man weiß, zeichnet niemanden mehr aus, heißt das. Es geht heute mehr darum, was man aus diesem Wissen macht, wozu es gut und nütze ist.

S>eit dem Aufkommen der Enzyklopädien warnten selbst die Enzyklopädisten davor, dass mit dem gebundenen, gebündelten Wissen zuviel Information in die Welt komme. Denis Diderot, der Autor der ersten modernen Enzyklopädie, der großen französischen Encyclopédie (1751-1772), schrieb: "In den kommenden Jahren wird die Zahl der Bücher kontinuierlich anwachsen", daher komme irgendwann der Moment, "an dem es fast so schwer sein wird, aus Büchern zu lernen, wie aus der direkten Anschauung des gesamten Universums." Dennoch mokierte er sich auch darüber, dass auch seine Enzyklopädie dazu beitrage, die Leute zu blenden. Im Abschnitt "Philopsoph" schreibt Diderot: "Nichts ist heutzutage einfacher, als ein Philosoph genannt zu werden; ein Leben in Obskurität, einige wenige tiefgründige Äußerungen, ein wenig Belesenheit sind genug um jene zu überlisten, die diesen Namen Leuten verleihen, die ihn nicht verdienen."

T>atsächlich ist die Klage über die Informationsflut so alt wie das Wissen selber. Was man bedenken, beherzigen, kennen muss, passt nicht mehr zwischen 48 Buchdeckel, auch wenn sie in Leder ausgeführt sind, das dem Wissensschatz die gebührende Ummantelung gibt und eine bei aller Unabgeschlossenheit dennoch eine Überschaubarkeit und Handhabbarkeit suggeriert, die sozusagen nur auf den passenden Augenblick wartet, um abgerufen zu werden. Doch: die Regalmeter Enzyklopädie für den ausgeruht gepflegten Umgang mit Wissen sind nie da, wo Wissen gerade gebraucht wird.

U>nser Leben ist so sehr zum Wissenleben geworden, unsere Mobilität verlangt derart viele Auskünfte, dass eine Auskunftei im Wohnzimmmer nicht mehr hinreicht, das Leben wissenmäßig zu bewältigen. Wir müssen zu oft nachschlagen, als dass uns die Lederbände noch wirklich helfen könnten, heißt das.

V>iel hat sich geändert: Es geht, und hier ändert sich das Wissensstatut, nicht mehr darum, in aller Ausführlichkeit vom Stand einer Technologie und eines Verfahrens zu erfahren. Denn, Technologie und Verfahren ändern sich zu schnell, als dass sie in Druckerzeugnissen gefasst werden könnten. Enzyklopädien, so traurig das klingt, kommen hier immer ein wenig zu spät und berichten von dem, was mal war. Nicht von dem, was gerade ist.

W>er heute auf Wikipedia nachschlägt, tut dies meist über sein Smartphone, er ist unterwegs, wenn er etwas wissen will. Der Wissensanspruch ist immer akut und kann nicht auf die Salon-Konversation warten, in der ein Phänomen, ein Problem debattiert wird.

X>aver Affentranger war ein 1897 geborener Schweizer Ski-Springer, Nordischer Kombinierer und Skilangläufer, der 1924 bei den Olympischen Spielen in allen drei Disziplinen antrat. Im Enzyklopädischen Zeitalter war das eine Information, die Stirnrunzeln hätte hervorrufen können, wenn man sie auf einer Party verlautbart hätte. Warum weiß jemand sowas? Heute wissen alle, dass man in Wikipedia nach dem Buchstaben "X" gesucht hat, irgendwas mit "X"!, und jeder darauf stoßen wird. Xaver Affentranger ist nicht einmal mehr eine kuriose Information.

Y>psilon stammt aus dem Griechischen und bedeutet "schlichtes i" (ὔ - ψιλον; ψιλον - schlicht, einfach, kahl, leer, bloß). Dieses Y kommt in den Sinn, wenn man heute vom Ende des Brockhaus liest. Denn obwohl es noch unzählige Enzyklopädien in den Bücherregalen des beflissenen Bildungsbürgertums gibt, genauso ist klar, dass es sich hier nur noch um einen kahlen, leeren, einfachen Dialekt des Wissens handelt, eine Ausformung, die eben so vergänglich ist wie die Webstühle am Ende des 19. Jahrhunderts.

Z>uletzt seien die Brockhaus-Lexika vor allem über den Direktvertrieb vermarktet worden, sagte eine Sprecher in Gütersloh. Damit werde nun der größere Teil des Geschäfts aufgegeben. Es sei nur ungenügend gelungen, neue Kunden zu gewinnen und den bestehenden Kunden neue Produkte zu verkaufen, räumte Bertelsmann ein. Die Marke Brockhaus gehört zum Wissenmedia Verlag. Der ist wiederum Teil des Direktvertriebsunternehmens InmediaOne. Das wird seine Arbeit in den kommenden zwölf Monaten schrittweise einstellen. Ein Großteil der 300 Arbeitsplätze an den Standorten Gütersloh und München fällt weg. Dazu kämen noch rund 300 selbstständige Handelsvertreter, sagte Fernando Carro der Neuen Westfälischen in Bielefeld. Er ist bei Bertelsmann verantwortlich für das Club- und das Direktkundengeschäft. Ein Sozialplan soll erarbeitet werden. "Die Zukunft der Marke Brockhaus ist noch unklar", sagte Pressesprecher Matthias Wulff. Denkbar sei, eine Lizenz für die Marke Brockhaus zu vergeben. "Denn Brockhaus ist ja eine gute Marke."

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