Britischer Schriftsteller zum 70.:Julian Barnes - art of fiction, plus Humor

British writer Julian Barnes

Hat es in der Kunst der unaufdringlichen Anwesenheit im Werk weit gebracht: der britische Schriftsteller Julian Barnes.

(Foto: picture alliance / dpa)

Er widersetzt sich der Tradition in der angelsächsischen Literatur, möglichst verständlich zu schreiben. Vielmehr steht Julian Barnes für Formbewusstsein und Doppelbödigkeit. Nun feiert er seinen 70. Geburtstag.

Von Lothar Müller

Er ist in seinen Büchern erkennbar vorhanden, und das will etwas heißen bei einem Autor, dem Gustave Flaubert viel bedeutet. Denn Flaubert legte bekanntlich großen Wert darauf, in seinen Romanen abwesend zu sein.

Schon in dem Roman "Flauberts Papagei" (1984), mit dem er international bekannt wurde, war Julian Barnes gelegentlich anwesend, etwa wenn der Hauptfigur Erinnerungen an ein Dinner in London in den Sinn kamen - auch wenn dem seltsamen Geoffrey Braithwaite, der dem Leben Flauberts nachspürte, an der Nasenspitze anzusehen war, dass er eine durch und durch erfundene Kunstfigur war.

Julian Barnes, am 19. Januar 1946 in Leicester geboren, hat es in der Kunst der unaufdringlichen Anwesenheit im Werk weit gebracht. Sein Essayband "Am Fenster", im Original 2012 und nun pünktlich zum 70. Geburtstag des Autors auch auf Deutsch erschienen, ist darum nicht nur eine Sammlung von Rezensionen und Autorenporträts, die ursprünglich in der New York Review of Books, dem Guardian, der London Review of Books oder als Nachworte erschienen. Er ist auch ein Selbstporträt.

Unübersehbar ist das zum Beispiel in dem Essay "Gegen Herzeleid gibt es kein Heilmittel". Er ist im Kern eine Doppelrezension von zwei Büchern, in denen bekannte Autorinnen über den Tod ihrer Ehegatten schreiben, mit denen sie lange Jahre zusammenlebten: Joan Didions "Das Jahr magischen Denkens" und Joyce Carol Oates' "Meine Zeit der Trauer".

Barnes nimmt den Lebensstoff dieser Bücher ernst, zugleich nimmt er aber die Autorinnen als Autorinnen ernst, fragt nach dem Verhältnis ihres Schreibens zu den lebenden und toten Ehemännern, fragt nach der Stimmigkeit ihrer Metaphern. Und deutet an, dass über die Bücher der Witwen ein Witwer schreibt.

Satz gegen die Ratschläge wohlmeinender Freunde

Irgendwann taucht ein Satz aus E. M. Forsters Roman "Howards End" auf: "Ein Tod mag sich selbst erklären, aber er wirft kein Licht auf einen anderen." Das ist, unter anderem, ein Satz gegen die Ratschläge wohlmeinender Freunde.

Er kam auch im letzten von Julian Barnes hierzulande erschienenen Buch vor "Levels of Life" (2013, dt. "Lebensstufen", 2015). Es trug die Widmung "Für Pat" und die letzte der hier versammelten essayistischen Erzählungen handelte von der fünf Jahre zuvor verstorbenen Adressatin der Widmung, Pat Kavanagh, mit der Julian Barnes dreißig Jahre lang zusammenlebte: "Zwischen Diagnose und Tod lagen 37 Tage."

Seltene Verbindung von Gelassenheit und Schärfe

Es führen von den Erwägungen über das "Herzeleid" im aktuellen Band Verbindungslinien zu dem Buch, in dem Julian Barnes seinen Lesern am ausführlichsten Auskunft über seine Herkunftswelt gegeben hat. Es hat keine Gattungsbezeichnung, trägt den Titel "Nichts, was man fürchten müsste" (2008) und beginnt mit dem Satz: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn."

Es handelt dann zwar auch von Gott, vor allem aber vom Tod, genauer: von der Sterblichkeit. Und man trifft dort auf die Eltern und Großeltern des Autors, auf die Innenansicht eines Engländers, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und in einer Zeit aufwuchs, in der - auch bei der einen Großmutter - vom Sozialismus noch viel erwartet wurde und das Empire endgültig seinem Ende entgegenging.

Und man begegnet dem drei Jahre älteren Bruder von Julian Barnes, Jonathan Barnes, der Aristoteles-Herausgeber in Oxford wurde und in seiner Kindheit ausschließlich Briefmarken des British Empire sammelte. Für Julian Barnes blieb - immerhin - der Rest der Welt. Er spezialisierte sich dann aber, was die Literatur betrifft, auf den europäischen Kontinent und die Vereinigten Staaten, und in Europa vor allem auf Frankreich.

So steht hier dem Essay "Kiplings Frankreich" das Pendant "Frankreichs Kipling" gegenüber. Ein Porträt des Autors Prosper Mérimée als Retter der alten französischen Architektur beginnt mit Erinnerungen an eine Loire-Reise der jungen Barnes-Brüder mit ihren Eltern, und der Essay "Michel Houellebecq und die Sünde der Verzweiflung" zeigt, wie sehr den Literaturkritiker Julian Barnes die seltene Verbindung von Gelassenheit und Schärfe auszeichnet.

Barnes hat Houellebecq für den Roman "Elementarteilchen" zu einem internationalen Literaturpreis verholfen - und nahm in diesem Essay den Folgeroman "Plattform" nach allen Regeln der Kunst auseinander.

Ja, nach den Regeln der Kunst. Denn der Kritiker Barnes argumentiert im Horizont der Henry James-Formel: "The Art of Fiction." Darum ist der Essay über George Orwell das Schlüsselstück dieses Bandes. Es ist, bei allem Respekt, eine Polemik gegen die Literaturauffassung Orwells, gegen seine Verachtung Virginia Woolfs, gegen sein Diktum, "gute Prosa sei wie eine Fensterscheibe, was all denen gefällt, die zwar im Lande von Shakespeare und Dickens leben, aber misstrauisch werden, wenn jemand 'kunstvoll' schreibt."

Romane, die nicht so leicht zu durchschauen sind

Barnes steht für Formbewusstsein, Doppelbödigkeit und Romane, die nicht so leicht zu durchschauen sind wie blankgewischte Fensterscheiben: das zeigen - im Zugleich von Autorenporträt und Stilkritik- seine Essays über Penelope Fitzgerald, Edith Wharton und Ford Madox Ford.

Es gibt aber auch eine Erzählung, und sie ist - ausgerechnet - eine Hommage an Ernest Hemingway. Aber nicht an den Hemingway, bei dem die Mythen der Vitalität die Kunst verdecken. Sondern an den raffinierten Autor der Schwäche und des Scheiterns - ihm entnimmt Barnes das Formmodell seiner eigenen, durchaus humoristischen Erzählung. Denn Julian Barnes, das ist: Art of fiction, plus Humor.

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