Zum Tod von Brigitte Kronauer:Sehnsucht ohne Schwermut

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Nichts Manieriertes und Kapriziöses war an ihrer Sprache, immer blieb sie sorgfältig und prägnant: Brigitte Kronauer. (Foto: imago/Hoffmann)

Brigitte Kronauers Romane waren so perfekt, als sei sie bereits als fertige Schriftstellerin in die Welt getreten.

Von Thomas Steinfeld

Von Brigitte Kronauer, einer Schriftstellerin, die, einem großen Ruhm zum Trotz, nie die Anerkennung erhielt, die sie eigentlich verdiente, gibt es einen Essay, in dem sie einen langen Spaziergang beschreibt. Er beginnt in ihrem Wohnort, dem Hamburger Stadtteil Nienstedten, und führt die Elbe stromabwärts. Gegenüber liegt Finkenwerder, wo die Flugzeuge von Airbus zusammengebaut werden, irgendwo in der Nähe befindet sich das Heizkraftwerk Wedel, und die Immobilienspekulation schreitet unaufhaltsam voran.

Mitten in dieser offenbar wenig erbaulichen Landschaft aber liegt, nicht als glückliche Ausnahme, sondern ganz und gar selbstverständlich, die Haseldorfer Binnenelbe mit ihren Altarmen. Zwergschwäne nisten in diesem Gelände, in großer Zahl. "Es gibt dort Goldregenpfeifer und Kampfläufer sowie die seltene Schachbrettblume." All diese Tiere und Pflanzen kennt und sieht Brigitte Kronauer, wenn sie dem Lauf des Flusses folgt, und während sie so geht, denkt sie über Ökologie nach, über Nutzungspläne und das Picknicken an entlegenen Baumstümpfen. Programmatisch zitiert sie Robert Walser: "Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel."

In ihren Büchern ist ein Wille zur Schönheit, der sich im scheinbar Profanen erfüllt findet

Ein Dutzend Romane gibt es von Brigitte Kronauer, angefangen mit "Frau Mühlenbeck im Gehäus" aus dem Jahr 1980. Ebenso viele Bände mit Erzählungen und Geschichten veröffentlichte sie, neben einer Vielzahl von kleineren, hauptsächlich literaturkritischen Arbeiten. Zusammengehalten aber wird dieses große Œuvre vom Bewusstsein einer, wie Brigitte Kronauer in einem anderen Zusammenhang meinte, "verrufenen Intimität" zwischen Kunst und Leben, dem Hohen und dem Niederen, dem Außerordentlichen und dem Gewöhnlichen - und, wie man für sie hinzufügen muss, von einem Willen zur Schönheit, der sich, mehr noch als in kanonischen Werken, im scheinbar Profanen erfüllt fand.

Wie sie zum Schreiben fand, ist ein Geheimnis. Lehrerin war sie gewesen, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte, aber einen Lehrer im Literarischen scheint sie nicht besessen zu haben: Sie trat als fertige Schriftstellerin in die Welt, mit lauter nahezu perfekten Romanen, die Titel wie "Berittener Bogenschütze" (1986) oder "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" (2019) tragen, ein wenig surreal, ein wenig geheimnisvoll, die aber, wie sich bei der Lektüre jedes Mal herausstellt, von einer großen Gabe nicht nur zur exakten Beobachtung, sondern auch zur spannungsvoll erzählten Geschichte getragen sind.

Hätte Brigitte Kronauer dennoch einen älteren Verwandten in der Literatur, nicht im Stil, nicht in der Anlage der Werke, aber im Weltverhältnis, so wäre es Jean Paul: "Eine hüpfende, fragmentarische Totalität" sei diesem Schriftsteller zu eigen, schreibt Brigitte Kronauer in einem ihrer literaturkritischen Essays, "eine Welt, die jeden Augenblick aufblühen oder erstarren, in steiler Himmelfahrt abheben oder in ernüchternde Alltäglichkeit stürzen kann, tiefer noch, in ein ,starres, stummes Nichts'." Nicht erdacht, nicht geplant sei dieses Weltverhältnis gewesen, sondern hervorgegangen aus einer heftigen, schmerzhaften Konfrontation mit der Wirklichkeit.

Das Hüpfende war Brigitte Kronauer nicht zu eigen, in keiner Weise. Ihre Sache war der sich beherrscht entwickelnde, oft lange und sorgfältig periodisierte Satz, ihr Anliegen war die in Schönheit genaue und prägnante Formulierung. Etwas Damenhaftes ist dieser Art zu schreiben eigen, sofern man darunter nicht etwas Manieriertes und Kapriziöses, sondern etwas Feines, Diskretes und Elegantes versteht. Das Ineinander von Himmelfahrt und Höllensturz aber kannte sie gewiss, und vermutlich durchaus nicht nur in der Literatur.

Was es mit diesem Ineinander auf sich hat, sei an einem kleinen Beispiel illustriert. In ihrem Buch "Die Kleider der Frauen" (2008), einem Band mit ineinander verwobenen Erzählungen, schildert Kronauer die Biografie einer Frau anhand der von dieser Frau getragenen Röcke, Pullover, Jacken. Rita heißt diese Frau in einer jungen Inkarnation, und als solche zieht sie das Begehren eines noch deutlich jüngeren Mannes auf sich, den sie, unter dem "stummen Höhnen des Flieders", in einer geselligen Runde in einem Schrebergarten kennenlernt. So sehr verliebt sich der junge Mann in Rita, dass er sie an einem Regenabend mit einem Geschenk überrascht: "Schuhe aus goldenem Leder, bis auf die Sohle ganz ohne Mittelstück. Die Ferse war in hinreißender Übertreibung am imaginären Bein hochgezogen, das Leder so kostbar, dass es wie weicher Stoff behandelt werden konnte und die Kelchblätter einer langgestreckten Blüte nachahmte." Es ist ein monströses Geschenk, das Rita empfangen soll, eine Gabe des erotischen Überschwangs, des absurden Wagemuts und der tiefsten Hilflosigkeit. Und doch steckt eine Verlockung darin, von der Erzählerin gerade so weit angedeutet, wie es der Anstand erlaubt: Rita war allein gewesen, sie hatte sich nach Liebe gesehnt, sie hatte nach Männerschritten gelauscht. Vom Sehnen verstand Brigitte Kronauer viel, in einem rigoros aufgeklärten, nie aber in einem zynischen Sinn. Und nichts wäre ihr ferner gewesen, als ihre Leser angesichts lauter verfehlter Sehnsüchte schwermütig werden zu lassen.

In "Errötende Mörder" fühlte sie sich in einen Messie ein, der nichts wegwerfen kann

Es ist, ganz sicher, ein Irrtum, die deutsche (oder irgendeine andere gegenwärtige) Gesellschaft für radikal effizient und rationalisiert zu halten. Tatsächlich verglüht ein großer und womöglich der größte Teil der gesellschaftlichen Produktivität in chimärischen, ja streng genommen illusionären Anstrengungen, und zwar angefangen von Gebrauchsgegenständen, großen und kleinen, die, lange bevor sie technisch oder materiell untauglich werden, einem moralischen Verschleiß zum Opfer fallen, über ganze Geschäftsfelder wie Werbung und Mode, Marketing und Design, deren wesentlicher Zweck darin besteht, den persönlichen, immer über alles Erreichbare hinausschießenden Idealismus der Menschen zu bedienen, bis hin zum Sport und zur populären Kultur. Solche Illusionen nur Illusionen zu nennen, ist zwar kulturkritische Tradition, geht aber am Charakter dieser Gegenstände - und am Charakter der in ihnen niedergelegten Hoffnungen und Wünsche - vorbei. Denn in ihnen wohnt, buchstäblich, der Ernst des Lebens, das Glück der Menschen, ihre Eigenart, ihre Mühe, und ja, auch, das Vergebliche, das all diesen Anstrengungen zumindest einen Anflug von Größe verleiht. In den Roman "Errötende Mörder" (2007) ist eine Erzählung gewoben, die vom Zusammenhang zwischen Müll und Erhabenheit handelt: Er handelt von einem "Messie", einem Menschen, der nichts wegwerfen kann, da doch in jedem Ding, auch dem noch so hässlichen und banalen, etwas Einzigartiges steckt, etwas, das es zu retten gilt.

"Favoriten" (2010) lautet der Titel eines Bands, in dem Brigitte Kronauer einige Aufsätze zur Literatur versammelte. Im Vorwort spricht sie von ihren Vorbehalten gegenüber einer "primitiven Epik" - das Wort stammt von Robert Musil -, der sie ihr eigenes "mühevolles oder spielerisches Streben nach Rundung, Ziel und Sinn" gegenüberstellt, keinen Zweifel daran lassend, dass eine solche "Rundung" etwas zumindest Unwahrscheinliches, wenn nicht Unmögliches ist. Es ist aber das Wissen um das Unmögliche des Möglichen, dieser qualifizierte, manchmal sarkastische, aber im Grunde immer liebevolle Zweifel an allem, was ein Mensch so hervorbringt, einschließlich seiner selbst, das aus Kronauers Büchern ein literarisches Werk von außerordentlicher Tiefe, sprachlicher Brillanz und zarter Lebendigkeit werden lässt. Am Montag ist Brigitte Kronauer nach einer langen Krankheit im Alter von 78 Jahren in Hamburg gestorben.

© SZ vom 24.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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