Briefwechsel:Es kann ja gar nicht sein, dass keiner die Kleinen liebt

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Als sich Astrid Lindgren (1907 bis 2002) und Louise Hartung kennenlernten, hatte jene gerade in schneller Folge die Bücher zu Pippi Langstrumpf, zu Kalle Blomquist sowie die ersten drei Bullerbü-Romane veröffentlicht. (Foto: Reiss/dpa)

Die Briefe Astrid Lindgrens und Louise Hartungs.

Von Meike Feßmann

Dass das wirkliche Leben oft origineller ist als die Literatur, davon war Louise Hartung überzeugt. Sie ist der weniger berühmte, aber interessantere Part dieses aufregenden Briefwechsels. Ob es tatsächlich an der Originalität des Lebens liegt oder nicht eher an ihrer Beobachtungsgabe, Empfindungsfähigkeit und der umwerfenden Anschaulichkeit ihres Stils, sei dahingestellt. Auf jeden Fall liest sich der Briefwechsel zwischen Louise Hartung (1905 - 1965) und Astrid Lindgren (1907 - 2002) spannender als mancher Roman.

Die Leseförderung führte die beiden Frauen zusammen, nach dem Krieg in Berlin

Die beiden lernten sich im Oktober 1953 kennen. Louise Hartung, eigentlich Sängerin, die vor Hitlers Machtergreifung eine Bohème-Existenz führte, arbeitete nach dem Krieg in der Berliner Verwaltung. Sie war maßgeblich am Wiederaufbau musikalischer Institutionen beteiligt und setzte sich später im Jugendamt höchst engagiert für die Leseförderung ein. In dieser Funktion hatte sie Astrid Lindgren nach Berlin eingeladen und in ihrer Wilmersdorfer Wohnung beherbergt. Zwölf Jahre lang, bis zu Louise Hartungs frühem Tod, wechselten die beiden Briefe, besuchten sich und unternahmen gemeinsame Reisen in Hartungs hellblauem VW Karmann Ghia Cabriolet. Dabei war ihre Beziehung beileibe nicht konfliktfrei. Vor allem in der ersten Zeit war Astrid Lindgren mehrmals drauf und dran, sie abzubrechen. Denn Louise Hartung hatte sich leidenschaftlich in Astrid Lindgren verliebt, deren Ehemann im Jahr davor gestorben war. Doch die Schriftstellerin erwiderte ihre Gefühle nicht und konnte sich auch nicht vorstellen, eine Frau zu lieben.

Louise Hartung gelingen eindrückliche Beschreibungen der düsteren Atmosphäre im Berlin der Nachkriegszeit. Sie kann die Auswirkungen ständiger Todespräsenz mit äußerst knappen Worten schildern. Nur nebenher erwähnt sie einmal, dass sie in ihrem Wochenendhaus in Caputh ein jüdisches Ehepaar vor der Deportation bewahrte.

Schon bei Lindgrens erstem Besuch hatte sie die in Deutschland noch nicht sehr bekannte Schriftstellerin, für deren Werk sie zeitlebens mit wehenden Fahnen kämpfte, zu einer nächtlichen Autofahrt in den Ostsektor eingeladen, ein zwischen Abenteuer und Unheimlichkeit changierendes Erlebnis, das in gewisser Weise zum Gründungsmythos ihrer Freundschaft wurde.

So spannend die zeitgeschichtlichen Hintergründe sind, die Beschreibungen des zerstörten Berlin, die Nervosität nach Chruschtschows Ultimatum, der Schock über den Mauerbau, der Besuch Kennedys, so interessant auch die Umstände, unter denen Astrid Lindgren ihr Werk hervorbrachte: Am aufregendsten ist doch der diffizile Balanceakt, mit dem hier zwei Menschen austarieren, in welcher Form sie miteinander umgehen können.

Louise Hartung erweist sich als Sophistin mit Galgenhumor, wenn sie Astrid Lindgrens Erklärungen, dass sie kein Begehren für sie empfindet, auseinandernimmt. Zumindest für den Leser ist es vergnüglich zu beobachten, wie die Intensität des Gefühls die Sprache zu Höhenflügen antreibt. Dagegen sind Lindgrens Entgegnungen oft matt, nicht nur von einer an Biederkeit grenzenden Bodenständigkeit, sondern auch mit weniger Verve und Esprit vorgetragen. Das hatte sicher auch charakterliche Gründe. Astrid Lindgren neigte zur Melancholie, während sich Louise Hartung als "äußerst gutgelaunter Mensch" empfahl und sogar bereit gewesen wäre, nach Stockholm zu ziehen.

Als Karrierefrauen avant la lettre beten sie einander ihre Terminpläne vor und bekunden ihre Arbeitsüberlastung. Hartungs Vorwurf, die Schriftstellerin verwandle ihr Leben in Tinte, kann diese leicht parieren. Nicht die Arbeit halte sie davon ab, die Freundin zu treffen, es seien Menschen. Das war wohl in der Tat der größte Unterschied zwischen den beiden fast gleich alten Frauen: Lindgren hatte nicht nur neben ihrem Schriftstellerberuf einen Lektoren-Job und musste bergeweise Fanpost beantworten, sie war auch der Mittelpunkt einer großen Familie, in der sie sich um ihre beiden Kinder und die wachsende Enkelschar kümmerte und nebenbei um ihre alten Eltern in Småland.

Die eine hätte gern geliebt, die andere erfreute sich an eher alltäglichen Dingen

Louise Hartungs Job war nicht weniger aufreibend, sie dachte an Frühpensionierung, litt unter Rheuma und ernsthaften Magenbeschwerden. Doch sie lebte allein und hatte keine Kinder. Allerdings konnte sie sich auf eine Weise in Kinderseelen einfühlen, die sie zur geschätzten Gesprächspartnerin machte. So berichtet sie etwa über den Schluss von "Mio" aus der Erfahrung ihres Montags-Lesekreises, dass die aus schwierigen Verhältnissen kommenden Kinder das Ende nicht hören wollten: "Selbst Kinder, die offensichtlich so gemartert waren, dass ein vernünftiges Wesen erkennen konnte, dass sie von ihren Eltern gehasst wurden - selbst diese Kinder können einfach nicht glauben, dass niemand sie liebt, dass sie einfach nicht für die andern existieren, derart nicht, dass man nicht einmal merkt, wenn sie verschwunden sind."

Die Klugheit der beiden Frauen, ihre Fantasie und allmähliche Annäherung, die für Louise Hartung wohl nie ganz dem entsprach, was sie sich wünschte, für Astrid Lindgren aber eine Lebenserleichterung war, macht dieses Buch zu einer auf jeder Seite anregenden Lektüre. Was Hartung über Freundschaft schreibt, über die Bedeutung von Wünschen, die man nicht aufgeben dürfe, auch wenn man um ihre Nicht-erfüllbarkeit wisse, hat philosophisches Gewicht. Auch in Gefühlsangelegenheiten sind ihre Formulierungen anschaulich und präzis, etwa, wenn sie sich darüber freut, dass Lindgren gemeinsame Reisepläne tatsächlich verwirklichen will: "plötzlich sprang diese eingekapselte Freude so jäh und hell und lodernd hoch, dass ich fast nicht begreifen kann, wie der Gedanke an einen anderen Menschen eine so reine Freude bringen kann."

Sie plante und organisierte alles, buchte Flüge für Lindgren und holte sie am Flughafen ab. Sie schickte Blumen aus ihren beiden Stadtgärtchen, schmuggelte Weine über die Grenze oder brachte Dinge mit, die Lindgren an sie erinnerten. "Ich habe auch gelebt!" ist ein abenteuerlicher Briefwechsel über die Spannweite zwischen Liebe und Freundschaft, ein Dokument der Nachkriegsjahre, ein Buch über kindliche Verletzlichkeit und die essenzielle Bedeutung von Literatur - und es ist nicht zuletzt ein Kompendium fürsorglicher Alltags-praktiken, mit denen Frauen sich das Leben erleichtern.

Astrid Lindgren / Louise Hartung: Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft. Ausgewählt und herausgegeben von Jens Andersen und Jette Glargaard. Aus dem Schwedischen, Dänischen, Englischen von Angelika Kutsch, Ursel Allenstein, Brigitte Jakobeit. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 592 Seiten, 26 Euro. E-Book 20,99 Euro.

© SZ vom 31.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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