Übersetzer waren in den 1950er-Jahren - wenn sie nicht für große Autoren arbeiteten, und selbst dann - kaum sichtbar, Frauen zumal. Übertrug eine Übersetzerin vor allem Untertitel für französische Filme, tauchte ihr Name vermutlich nicht einmal im Abspann auf.
Die Berufslaufbahn "passt" zu jener "Hannele" Genannten, an die der in Paris lebende Dichter deutscher Sprache Paul Celan im September und Oktober 1951 die fünf Briefe schrieb, die Anfang 2019 mit großem Presse-Echo versteigert wurden. Eine Person dieses Namens war in Celans Biografie der frühen Pariser Jahre bisher nicht bekannt. So waren die Briefe nicht zuzuordnen und die Identität der Empfängerin Gegenstand von Spekulationen. Eine Schauspielerin, die Gerhart Hauptmanns "Hannele" verkörperte? Johanna Jahn, die "Hannele" genannte Schwester des späteren Justizministers Gerhard Jahn, die in London eine Ausbildung machte? Das schien zu dem London-Aufenthalt zu passen, von dem in den Briefen die Rede ist. Oder sollte Celan gar Hanne Lenz schon vor dem Stuttgarter Treffen vom April 1954 gekannt haben? Schließlich sind im Autografen-Handel vor einigen Jahren plötzlich Widmungsexemplare Celans aus ihrem Besitz aufgetaucht, wenn auch aus späterer Zeit - warum nicht jetzt wieder?
Die heute im Deutschen Literaturarchiv aufbewahrten Briefe konnte ich im letzten Augenblick noch in die umfangreiche Auswahl von Briefen Paul Celans der Jahre 1934 bis 1970 aufnehmen, die unter dem Titel "etwas ganz und gar Persönliches" im Suhrkamp Verlag erscheint. Dafür war aber eine Identifikation sinnvoll, ja, notwendig. Wer ist also jenes "Hannele"?
Die detektivische Suche beginnt mit den Anhaltspunkten in den Briefe selbst: Zu vermuten war, dass sie etwa aus Celans Generation stammt, vielleicht war sie ein wenig jünger; vor einem gemeinsamen - oder zumindest gleichzeitigen - London-Aufenthalt Ende August und Anfang September 1951 lernten sich die beiden in Paris kennen, es gab gemeinsame Bekannte und Pariser Orte mit gemeinsamer Erinnerungs-"Fracht". Celan, für den es der erste Verwandtenbesuch in London seit 1939 war, kam danach sofort nach Paris und in den Alltag aus privatem Sprachunterricht und literarischen Begegnungen zurück. "Hannele" begleitete ihn nicht auf der Rückfahrt; spätestens im November aber wollte sie in Paris sein, um (wieder?) ein Studium aufzunehmen, bei dem unter anderem französische Zivilisation auf dem Programm stand. Ihr Eintreffen verzögerte sich durch eine schon in London aufgetretene Krankheit, der eine Operation folgte. Zwischen dem London-Aufenthalt und ihrem geplanten Wiedereintreffen in Paris schrieb Celan seine Briefe, und zwar wohl nach Westberlin - eine Adresse in Berlin wird als erreichbar erwähnt. Vor der London-Fahrt war keine Korrespondenz notwendig, in Paris war man ja in persönlichem Kontakt.
Ob "Hannele" wirklich zum neuen Studienjahr nach Paris zurückkehrte, sagen die Briefe nicht - da ist kein "ich hole dich am Bahnhof ab". Ein Notizkalender Celans von 1951 ist nicht erhalten. Ebenso wenig geben die Briefe preis, wie eng die junge Frau und Celan tatsächlich verbunden waren.
Für ein Verhältnis mit Zukunftsperspektive spricht, dass Celan sie offenbar seiner Tante vorgestellt hatte
Paul Celan war in diesen Dingen ja alles andere als eindeutig, immer wieder liefen Beziehungen gleichzeitig ab. Für den Sommer und Herbst 1951 lässt sich zumindest sagen, dass die Liebesbeziehung zu Erica Lillegg schon zu einer Freundschaft geworden war, in die deren Ehemann, Celans Wiener Förderer Edgar Jené, einbezogen war: Ein letzter inniger Brief Celans an sie datiert von Ende März 1951; in den Briefen an "Hannele" wird sie erwähnt. Das Verhältnis zu Ingeborg Bachmann - über sie kein Wort gegenüber der Deutschen - kriselte schon länger, auch in den Briefen zwischen ihr und Celan aus dem August 1951 ist das sichtbar. Ende Oktober 1951, also gleichzeitig mit dem letzten erhaltenen Brief an "Hannele", ist Bachmann aber immer noch "Meine liebe Inge", und es geht immerhin um das "endlich zueinander sprechen". Gisèle de Lestrange, Celans spätere Ehefrau, lernte der Dichter Anfang November 1951 kennen, nach dem letzten "Hannele"-Brief und zu dem Zeitpunkt, an dem die junge Frau nach Paris zurückkehren wollte.
Für ein Verhältnis mit Zukunftsperspektive sprechen also nicht so sehr Anreden wie "Liebe" und "Mein Liebstes" in den Briefen an "Hannele", sondern vor allem die Tatsache, dass Celan sie offenbar seiner Londoner Tante vorgestellt und ihr von gesundheitlichen Problemen der jungen Frau berichtet hat - Berta Antschel fragt nach ihr. In den Briefen an Dritte aus London oder über den Aufenthalt dort (bekannt sind solche an Ingeborg Bachmann, an die Freunde Klaus Demus und Isac Chiva, an die Schriftstellerin Hilde Spiel) wird "Hannele" jedoch mit keinem Wort erwähnt.
Der nach Celans Abreise aus London geschriebene Brief der Tante an ihn, den er "Hannele" gegenüber erwähnt, ist nicht erhalten. Wie diesen hat Celan "Hanneles" Briefe an ihn aus der Zeit nicht aufbewahrt. Sie hätten vielleicht geholfen, die Identität zu klären. Dass Briefe fehlen, ist nicht ungewöhnlich für Celans frühe Pariser Korrespondenzen: Er wohnte in einem monatlich gemieteten Hotelzimmer, für größere persönliche Archive war da kein Platz. Was war also zu tun, um der jungen Deutschen in der Briefausgabe mehr als einen Vornamen, um ihr eine persönliche Geschichte zu geben?
In der im Deutschen Literaturarchiv Marbach archivierten Korrespondenz Paul Celans gibt es nach Katalog eine Hannelore, eine Johanna und drei Briefschreiberinnen mit dem Vornamen Hanne. Eine davon ist Hanne Lenz, die nie länger in Paris war, dort nie studiert hat und nie in Westberlin lebte. Die einzige Hannelore war erst Mitte der 1950er-Jahre Au-pair-Mädchen bei einer der Schwestern von Celans Frau; als Person war sie durch den Briefwechsel Celans mit seiner Frau bereits bekannt. Die einzige Johanna und eine weitere Hanne nahmen 1965 beziehungsweise 1968 als Buchhändlerinnen Kontakt mit Celan auf.
Übrig blieb eine nicht näher bekannte Hanne Hoelzmann, von der ein an einem 27. Dezember - ohne Jahresangabe - aus Westberlin geschriebener Brief erhalten ist. Schon als Berlinerin war sie für die Recherche interessant. Ihre "Hanne" (nicht "Hannele") unterschriebenen Zeilen in nicht ganz fehlerlosem Französisch sprechen für eine deutsche Schreiberin und zeigen eine gewisse Vertrautheit aus zurückliegender Zeit. Sie duzt den "Cher Paul" nämlich. Zudem: Ihr Brief lässt auf ein Treffen wenige Tage vorher schließen.
Alltagsdetails aus dem Leben eines jungen Staatenlosen in Paris machen die Briefe so wertvoll
Celan war in einem späten Dezember tatsächlich in Westberlin - 1967 hielt er sich für mehrere Lesungen zum ersten und einzigen Mal dort auf. Vermutlich besuchte sie die öffentliche Veranstaltung am 18. Dezember in der Akademie der Künste und sprach ihn an. Im Brief erwähnt sie die Begegnung und dankt für ein wohl bei diesem Anlass erhaltenes Exemplar des Ende August erschienenen Gedichtbands "Atemwende". Für den 21. Dezember um 15.30 Uhr wurde ein Treffen vereinbart, das unter dem Namen "Hannelore" im Notizkalender 1967 vermerkt ist; im Notizkalender von 1968 ist dann ihre Westberliner Adresse verzeichnet. Einer von Hanne Hoelzmanns beiden Söhnen, der sich an Erzählungen seiner Mutter über Paul Celan durchaus erinnert, konnte aufgefunden werden und die Zuschreibung bestätigen. Gern war er zu Auskünften bereit.
"Hannele" wurde als Hannelore Bettger 1926 geboren. Als sie Celan in Paris kennenlernte, war sie nach einer kurzen, kinderlosen Ehe mit dem Arzt Bernd Scholz geschieden. Als Hannelore Scholz also studierte sie im Rahmen ihrer Übersetzerausbildung eine Zeitlang in Paris. 1955 heiratete sie in Westberlin den Maler und späteren Professor an der dortigen Hochschule der Künste Egon Hoelzmann und arbeitete bis zur Geburt ihrer beiden Söhne als Übersetzerin aus dem Französischen für den Film.
Auf ihr Interesse am Film und an Bildender Kunst gehen auch Celans Briefe ein: Er schickt ihr das durch einen Film inspirierte Gedicht "Wasser und Feuer" und erläutert die Anregung. Außerdem berichtet er unter anderem über Besuche in Künstlerkreisen, der Maler Heinz Trökes gehörte zu den gemeinsamen Bekannten.
Nach London dürfte sie nicht als Celans "Anhang", sondern aus eigenem Antrieb gefahren sein. Denn dort lebte ein Jugendfreund: Der 1925 geborene Andrew Herxheimer war mit seiner Familie emigriert, weil dem Vater durch die "Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz" als "Juden" 1938 die Ausübung seines Arztberufes unmöglich gemacht wurde. Hanne und Andrew haben sich 1951 wohl erstmals nach Kriegsende gesehen. Und sie blieben in Kontakt: Der spätere bedeutende klinische Pharmakologe wurde Patenonkel des älteren Sohnes. Dass Celan Andrew Herxheimer persönlich kennenlernte, ist unwahrscheinlich. Er erwähnt ihn in keinem Brief aus London oder über diesen Aufenthalt; zudem ist aus den Briefen an "Hannele" eher Distanz zu spüren, wenn er von "fremden Menschen" spricht, auf die sie, die Kranke, in London angewiesen sei.
Die Briefe an Hannelore Scholz sind in mehr als einer Hinsicht von Bedeutung. Sie vermitteln biografische und werkgeschichtliche Details zu Celans frühen Pariser Jahren. Zum einen zeigen sie etwa die Kontakte des im Bukarester und Wiener Surrealismus aktiven Celan zu den Rändern der sich auflösenden surrealistischen Szene. Zum andern erfahren wir - wie aus vielen anderen der in der Auswahl erstmals publizierten Briefe - von bisher nicht bekannten, unveröffentlicht gebliebenen Übertragungen, etwa von Gedichten Alain Bosquets. Die Briefe geben sogar unbekannte Details zum Schicksal von Celans Yvan-Goll-Übertragungen preis: Claire Goll bot eine davon dem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt an, der - begeistert - daran dachte, sie ins Verlagsprogramm von 1952 aufzunehmen; eine Publikation freilich kam wegen des Zerwürfnisses zwischen Celan und Claire Goll nicht mehr zustande.
Auch in anderer Hinsicht bringen die Briefe für den Goll-Kontext Neues. Sie erlauben es etwa, den Wert des im Januar 1952 von Claire Goll genannten Übersetzungshonorars von 10 000 (alten) Francs einzuschätzen: So viel kostete Celans Hotelzimmer ab November 1951 im Monat. Es sind derartige Alltagsdetails über das Leben eines jungen Staatenlosen Anfang der 1950er-Jahre in Paris, die die Briefe an das "Fräulein Scholz" (so im Gruß eines gemeinsamen Bekannten) besonders wertvoll machen. Dank der Krupp-Stiftung, die sie für das Marbacher Archiv erworben hat, sind sie nun der Öffentlichkeit zugänglich.
Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Wiedemann lehrt an der Universität Tübingen und ist Herausgeberin der Werke Celans bei Suhrkamp.