Süddeutsche Zeitung

Brexit:Wider besseres Gewissen

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Der Brexit brachte die britische Regierung zu Lügen und dem Bruch mit der Krone. Wird so die britische Verfassung hinterrücks gemeuchelt? Ein historischer Blick auf eine aktuelle Frage.

Von Jeremy Adler

Zur heutigen Krise in Britannien gehört nicht zuletzt ein schwerwiegendes Problem mit der Verfassung. Seit Jahrhunderten ändert sie sich ständig, ohne je eine kodifizierte Form anzunehmen. Jetzt ist sie aber zum ersten Mal in sich widersprüchlich geworden. Ist das die "Euthanasie" der Verfassung, die der Philosoph David Hume als natürliches Ende jedes politischen Systems vorhersah?

Die nationale Verblendung, die mit der Brexit-Kampagne begann, greift immer mehr um sich und kennzeichnet die paradoxe, schier unverständliche Stellungnahme der Briten in ihren Verhandlungen mit der EU. Neulich hat der konservative Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, der bei den Tories als einer der populärsten Kandidaten für den nächsten Premier gilt, den Brexit mit den größten Augenblicken der britischen Geschichte gleichgestellt: also mit den Schlachten von Crecy (1346), Agincourt (1415), Trafalgar (1805) und Waterloo (1815) - als ob Britannien einen Unabhängigkeitskrieg gewonnen hätte.

Rees-Mogg war früher vor allem als Filibuster bekannt: Ein Gesetz zur Einführung von biologisch haltbarem Vieh hat er bekanntlich durch eine lange Rede über die schwarze Sau "The Empress of Blandings" aus den humoristischen Romanen von P. G. Woodhouse blockiert. Rees-Moggs Verwirrung ist allzu typisch für die sogenannten Brexiteers. Es fehlt ihnen an Einsicht, ja, man hängt Margaret Thatchers und Theresa Mays "global Britain" nach, als ob man das Empire zurückerobern könnte.

Shakespeares Wahrheit, auf der die Verfassung beruht, ist dem Wahn zum Opfer gefallen

In Ermangelung einer kodifizierten Verfassung dient Shakespeare oft als eine Art Richtlinie. Im damaligen England, wie auch damals im Heiligen Römischen Reich, bildete die Verfassung ein eifrig diskutiertes Thema. Man hat bei Shakespeare Ideen aus Aristoteles' "Politeia", aus Machiavellis "Prinzen" und auch aus Jean Bodins "Sechs Büchern des Gemeinwesens" von 1576 gefunden. Hier tritt erstmals der Begriff der Souveränität auf, wie er auch bei Shakespeare erscheint.

So hat dieser etwa in "Richard II" ein halbes Jahrhundert vor Hobbes' "Leviathan" (1651) in symbolischer Form einen Abriss der Verfassung geliefert: Ort und Macht sind identisch; auch Herrscher und Volk; Natur und Reichtum; Erde und Kunst; Sitte und Religion. Es verkörpert die Insel eine immer noch verteidigte Souveränität, ein Ideal des selbständigen Reichs. Die Geschichtsdramen, die auf historischen Quellen wie die "Chroniken" von Froissart aus dem 14. Jahrhundert und Holinshed (1577) beruhen, enthalten eine ganze Staatslehre.

In einem Aufsatz von 1901 hat Walter Bagehot, der vorzüglichste Kenner der britischen Verfassung, Shakespeares Gedanken analysiert. Er betont Shakespeares Respekt vor der Verfassung, seinen Glauben an öffentliche Institutionen und seinen Geist, der zwar nicht der eines Demokraten, doch von der Art ist, welche die Demokratie hervorbrachte. Laut Bagehot stellt die Verfassung bei Shakespeare eine "unveränderliche Gedankenform" dar. Man könnte sagen, die Verfassung sei die innere Form des Staats. Das höchste Ziel der Gesetzgebung erkennt Shakespeare in der Glückseligkeit des Gemeinwesens, das bei ihm wichtiger ist als der Herrscher selbst.

Der Zusammenhang beruht auf Wahrheit, wie es in "Henry V" heißt: " O England! Vorbild deiner innern Größe, / Gleich einem kleinen Leib mit mächtigem Herzen, / Was könntest du nicht tun, was Ehre will, / Wär jedes deiner Kinder gut und echt!" Die Verbindung von Politik und Moral, von Gewissen und Staatswesen sollte das "Inselvolk" leiten. Dabei besitzt jeder, wie Hamlet sagt, eine "freie Seele". Dementsprechend bildet die damals heftig diskutierte, doch erst Jahre später im Akt der Toleranz (1689) gesetzlich verankerte Glaubensfreiheit einen Grundsatz, wie es ferner in "Henry V" heißt: "Jedes Subjekts Pflicht ist des Königs / Doch jedes Subjekts Seele sein eigen."

Die Wahrheit, auf der bei Shakespeare die britische Verfassung beruht, ist heute dem Wahn zum Opfer gefallen. So schrieb neulich der ideologietrunkene britische Abgeordnete des Europaparlaments Daniel Hannan in biblischen Tönen: "Britannien hat jetzt die Chance, am Erfolg der Neuen Welt teilzunehmen, die Augen von der erschöpften Alten Welt zu erheben, um die Möglichkeiten über die entfernten Ozeanen wahrzunehmen."

Von solchem Gefasel ließ sich das Volk betrügen. Es ging sogar so weit, dass Frau May die Königin anlog. Das rief Entrüstung hervor, nicht zuletzt im Buckingham- Palast. Gleich nach der Wahl am 8. Juni 2017 sagte May nämlich der Königin, sie könne eine Koalitionsregierung mit der DUP bilden, jener winzigen nordirischen Partei. Das Abkommen brauchte jedoch weitere siebzehn Tage, bis May deren Votum mit einer Bestechungssumme zugunsten des nordirischen Haushalts von einer Milliarde Pfund kaufte. Eine solche Korruption gab es in Großbritannien seit Menschengedenken nicht. May zerbrach den Bund mit der Krone, auf den sich die Verfassung stützt.

Zwar meint man allgemein, Britannien habe keine Verfassung, weil die Regierung jederzeit die Gesetze ändern kann, doch widerspricht dem eine Fülle von Ordnungen und Dokumenten, angefangen von der Magna Carta von 1215 und der Bill of Rights von 1688 bis zur Reform Bill aus dem Jahre 1832. Man muss zu einer Fülle von Texten greifen, um die Verfassung aufzuspüren, aber dann findet man sie.

Dem Begründer des britischen Konservatismus, Edmund Burke, verdanken wir etwa die Definition der Rolle eines Abgeordneten. Er betont, ein "Abgeordneter" sei kein "Deputierter": Jener darf nicht den Willen seiner Wähler exekutieren, er muss stets nach dem eigenen Gewissen handeln.

In seiner "Rede an die Wähler Bristols" meinte Burke 1774, der Abgeordnete darf nicht "seine vorurteilslose Meinung, sein reifes Urteil, sein aufgeklärtes Bewusstsein" dem Wähler opfern. Wer das tut, "verrät" die Wählerschaft. Dieses Prinzip ist tief in der Struktur des Lebens Britanniens verankert.

Die jetzige Regierung hat mit dem Grundsatz gebrochen. May beschwört stets "den Willen des Volkes". Damit maßt sie sich etwas an, was als "Tyrannei der Majorität" bezeichnet wurde, anstatt eine gewissenhafte Legislative zu leiten. Ihr Begriff des "allgemeinen Willens" widerspricht dem britischen System. Die im Gewissen des Einzelnen verankerte Macht verlagert sich dadurch auf den schwer zu definierenden Willen des Volkes.

Das ist die Aporie der heutigen Verfassung. Wie Vernon Bogdanor, unser bester Experte, vor ein paar Jahren in "Die neue britische Verfassung" bemerkte, befindet sich die britische Verfassung im andauernden Wandel, wobei sich die Legitimität der Regierung zunehmend von der Königin auf "we, the people" verlagert. Hätte Britannien jedoch, wie manche es wollen, eine kodifizierte Verfassung, hätte die jetzige Misere kaum erfolgen können. Zwar haben Experten schon lange für die Einführung des Plebiszits argumentiert, dabei aber den eventuellen Konflikt zwischen dem Volkswillen und das Gewissen der Abgeordneten nicht bedacht.

In seinem Essay zum Brexit verliert Bogdanor darüber kein Wort. Auch das entsprechende parlamentarische Komitee bemerkte die Differenz, ohne jedoch einen Ausweg aus der Zwickmühle zu finden. Weder in der Öffentlichkeit noch im Parlament hat man dieses Paradox diskutiert. So kollidieren heute zwei entgegengesetzte Prinzipien. Daraus folgt die inkohärente Handlungsart des Premiers und ihrer Minister, die geradezu groteske Politik: die Regierung steckt in andauerndem Konflikt mit sich selbst.

Nicht die Gesetze können eine Gesellschaft regeln, sondern die Menschen

Die Verfassung findet im Kommentar zum britischen Recht, William Blackstones "Fundamentale Gesetze Englands" (1765 - 1768), ihren Ausdruck. Blackstone, der auch in Deutschland viel Zuspruch genoss, betont den Unterschied zu den "modernen Verfassungen" am "Kontinent" und preist das britische System als nahezu "perfekt". Im Zentrum steht das Gewissen. Die Gesetze meinen Regeln, nicht die Handlung im Allgemeinen, aber die menschliche Handlung oder das Verhalten: Das heißt Maximen nach denen sich der Mensch, das nobelste aller irdischen Wesen, eine Kreatur mit Vernunft und freiem Willen versehen, richten kann, um jene seelischen Kräfte zwecks der generellen Regulierung seines Verhaltens zu benutzen.

Blackstones innerliches Verständnis des Rechts zieht gleich Shakespeare, dem dichterischen Juristen, eine direkte Linie von der Gottheit über die Regierung bis hin zum Individuum. Wie Shakespeare findet Blackstone eine Verwandtschaft von "Justiz" und "Glückseligkeit". Ja, das "Naturgesetz" ist gar mit der "Ethik" identisch. Diese intime Beziehung von Ethik, Gesetz und Glück verweist auf ein Rechtsverständnis, das für Britannien typisch ist.

Einen weiteren Beitrag zum Begriff der Verfassung, der für ein Verständnis der heutigen Lage essenziell ist, lieferte Burke in seinen "Betrachtungen über die Revolution in Frankreich" im Jahr 1790. Die "abstrakte Perfektion" lehnt Burke ab. Nicht die Gesetze können eine Gesellschaft regeln, sondern die Menschen. Rechte sind ebenso fraglich: Die "Freiheiten" ändern sich, daher gibt es nichts Dümmeres, als sie festzulegen.

Diese an Justus Möser und gewissermaßen auch an Goethe gemahnenden Anschauungen prägen das britische Denken. Ist für die Theoretiker Europas die Verfassung eine zivilisatorische Errungenschaft, hält Burke von ihr rein gar nichts. Denn die eigentliche Verfassung drückt sich in Bräuchen aus, aber auch in Personen. So hat man zum Beispiel den Premier William Pitt d. Ä. als ebenbürtig mit Magna Carta und der britischen "Freiheit" gerühmt. Es hängt der Staat in einem hohen Maße vom Premier ab, der direkt unter dem Monarchen steht, daselbst als höchste legislative Instanz und Hüter der Verfassung.

Sind nach Dicey, der die maßgebliche "Einleitung zum Studium der Gesetze der Verfassung" schrieb (1885 - 1915), die zwei Prinzipien des britischen Systems die Souveränität des Parlaments und das Gesetz (rule of law), so gilt mindestens seit E. A. Freemans "Ursprung der britischen Verfassung" (1872) die "politische Ethik" als grundlegend: Es handelt sich um einen "Kodex" von ungeschriebenen "Maximen" zur Leitung des Verhaltens im öffentlichen Leben. Dieses "Gespenst einer Verfassung" nahm dann in den sogenannten Nolan-Regeln ein Maß von "Fleisch und Blut" an, als 1995 Lord Nolan sieben Leitlinien für das Kabinett aufstellte, darunter folgende in der jüngsten Formulierung: "Minister müssen Entscheidungen unparteiisch, fair und aufgrund von den Meriten fällen, mit den besten Beweisen und ohne Diskrimination oder Parteilichkeit".

Theresa May griff zum Entsetzen des Verfassungskomitees auf die Befugnisse von Henry VIII. zurück

In einem Interview am 11. Oktober 2017 weigerte sich jedoch Frau May zu sagen, ob sie bei einem neuen Plebiszit für den Brexit stimmen würde. Das erweckt deutlich den Eindruck, dass sie jetzt gegen ihr Gewissen handelt. Es ist auch offenkundig, dass Minister wie Michael Gove und Boris Johnson, die sich lauthals für den Brexit einsetzten, die Richtlinien von Freeman und Nolan durchbrachen.

Auch die Mehrheit der Tory-Abgeordneten votierte für den Verbleib - nach den Schätzungen der Financial Times 176 für Europa gegen 141. Das bedeutet, dass die ganze Regierung mit ihrer eigenen Politik im tiefsten Widerstreit steht. Sie ist ein Spiegel des zerrissenen Landes. Es ist demnach in Britannien eine Art "Doppelstaat" entstanden, um den Begriff von 1941 des deutschen Rechtsanwalts Ernst Fraenkel für das Dritte Reich zu zitieren. Man ist an die Grenzen der Verfassung gelangt. Laut Dicey bedeutet die britische Souveränität zwar das Recht des Parlaments, "jedes Gesetz zu verabschieden oder als ungültig zu erklären", doch erklärt er nicht, was geschieht, wenn die Souveränität mit sich selbst in Widerspruch gerät.

Typisch für diese Konfusion war der Plan der Frau May, zum Entsetzen des Verfassungskomitees im Oberhaus, bestimmte EU-Gesetze nicht durch die Legislative zu verändern, sondern nach Gutdünken einzelner Minister, hierbei die sogenannten Henry VIII powers verwendend, die nach einem Beschluss von 1539 dem Monarchen das Recht erteilen, frei nach Proklamation Gesetze zu erlassen. Um sich von dem modernen, demokratischen Europa zu lösen, wollte man auf die absolutistischen Proklamationen eines längst in Verruf geratenen Herrschers zurückgreifen. Zum Glück ging der Versuch fehl.

Auf Schritt und Tritt wird jedoch Burke verletzt, Freeman mokiert, Nolan Lügen gestraft. Ja, in ihrem Sinn handelt die Regierung eigentlich "verfassungswidrig". Denn Frau May mit ihrem Kabinett samt dem ganzen Unterhaus drängen das Land in eine Lage, von der sie alle sicherlich wissen, sie könne dem Staat Schaden anrichten. Das ergäbe also die endgültige Euthanasie der Verfassung.

Der Autor ist Professor Emeritus für Germanistik am King's College in London. Zuletzt erschien von ihm"Das absolut Böse: Zur Neuedition von Mein Kampf" (Donat Verlag).

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SZ vom 09.01.2018
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