Süddeutsche Zeitung

Brexit:Noch ist London nicht verloren

Nach dem Brexit-Votum bleibt das Gefühl eines Generationenkonflikts. Ein Rundgang durch London zeigt: So einfach ist das alles nicht.

Reportage von Jan Kedves, London

London nach dem Brexit. Downing Street, Westminster, die Kreditwürdigkeit im Chaos. Zugleich wirkt die Stadt so wie immer. Vor den Bushaltestellen warten brav die Schlangen, nach 18 Uhr wanken die Betrunkenen durch die Straßen, in der U-Bahn sitzen Rastafari, Banker, Japanerin und Rentner nebeneinander. War dieses fast schon utopisch durchmischte London nicht mal Vorbild für Europa? Jetzt heißt es, der Brexit werde Europa zerreißen. Wenn er denn überhaupt kommt. Und die Jugend? Einerseits hieß es, die Alten nähmen ihr die Zukunft weg. Andererseits haben sich die 18- bis 24-Jährigen überstimmen lassen. In ihrer Altersgruppe lag die Wahlbeteiligung bei 36 Prozent. Wie interessant ist denn die Zukunft?

Interessant genug zumindest, um - wie etwa am vergangenen Samstag - auf die Straße zu gehen und zu Zehntausenden gegen den Brexit zu demonstrieren. Mit Slogans, die von der Occupy-Bewegung entliehen sind: "Wir sind die 48 Prozent!" Und immer wieder: "I love EU" - EU natürlich ausgesprochen wie "you".

Es sind ziemlich wahnsinnige, widersprüchliche Tage in dieser Stadt. Man kann nur versuchen, sich ein Bild von London zu machen. Am besten per U-Bahn, mit der die einfache Fahrt aktuell umgerechnet 5,90 Euro kostet. Vor der Wahl waren es noch 6,44 Euro.

Wo sind denn nun all jene, die für den Brexit gestimmt haben?

Ein Rundgang durchs Post-Referendums-London muss ganz am Rand beginnen, in Hillingdon, weit draußen im Westen. Es ist einer der wenigen Bezirke hier, in denen die EU-Gegner in der Mehrzahl waren, 56 Prozent. Die oberirdische Endstation könnte trister kaum sein, ansonsten entspricht Hillingdon nicht dem Bild, das man sich vom mutmaßlich rechtslastigen Viertel mit mutmaßlich hoher Arbeitslosigkeit macht. Pakistani, Chinesen, Schwarze. Freundliche Geschäftigkeit. Es regnet, ein asiatisch aussehendes Mädchen und eine junge Muslima mit Kopftuch laufen vorbei. Sind sie schon 18? Ja, sagen sie, sie hätten gewählt. Mehr wollen sie nicht sagen, sie müssten dringend weiter.

Deutsche Zeitung? Ein 22-jähriger Student - blond, hippe Sneakers, seinen Namen will er nicht verraten, wobei Namen in dieser Geschichte eigentlich auch nicht wichtig sind - ist auskunftswilliger. Er hat "Remain" gewählt, "als einziger in meiner Familie. Meine Mutter hat ihre Entscheidung am nächsten Morgen sofort bereut." Warum sie gegen die EU gestimmt hat? "Ach, sie liest nur The Sun und Daily Mail, sie hat sich von der Panikmache mitreißen lassen." Die niedrige Wahlbeteiligung seiner Altersgenossen finde er "eine Schande". Er selbst wolle später im europäischen Ausland arbeiten.

Wo sind denn hier nun diejenigen, die "out" gewählt haben? Die vom Brexit begeistert sind? Ein rothaariger, pickliger, sehr höflicher Junge bleibt stehen. 18 Jahre ist er alt, hat zum ersten Mal gewählt. Was, wenn das Parlament den Brexit jetzt doch nicht vollziehen würde oder es gar ein neues Referendum gäbe? "Dann würde ich mir ziemlich verkohlt vorkommen." Warum will er raus aus der EU? "Weil 'In Vielfalt geeint', das offizielle Europamotto, zwar ein schönes Motto ist, aber es zu weit geht, wenn in den einzelnen Mitgliedstaaten die Vielfalt verloren geht, während wir hier unsere Kultur verlieren. Abgesehen davon wollen wir über uns selbst bestimmen und nicht vom Europäischen Parlament regiert werden, das wir nicht gewählt haben."

Ja, dass das Europäische Parlament ihnen bis ins Allerletzte vorschreibe, was sie zu tun und zu lassen hätten - diesen Mythos haben Boris Johnson und Nigel Farage den Briten wirklich tief in die Köpfe gehämmert. Seltsam nur, dass sie ausgerechnet mit Blick auf Brüssel jetzt ihre Liebe zu mehr, zu direkterer Demokratie entdecken, und nicht auch mit Blick auf London. Denn wer auch immer im September die Nachfolge von David Cameron antreten kann, wird vielleicht gar nicht vom Volk gewählt. Das House of Lords wird sowieso nie vom Volk gewählt. Ganz zu schweigen von der allerbeliebtesten Frau im ganzen Land, die auf ihre späten Tage nun auch noch ziemlich politische Reden hält: die Queen.

Was der Brexit mit der Queen, überhaupt mit der britischen Monarchie und der fortwährenden Trauer der Briten über den Verlust ihres Empires zu tun hat, beschäftigt eine Studentin des Goldsmiths College in New Cross, im Süden der Stadt. Sie steht vor einer der Bibliotheken und macht gerade Zigarettenpause. Sie ist zweifache Mutter, ihre Familie hat afrokaribischen Hintergrund, sie ist britische Staatsbürgerin und Studentin der Psychosoziologie mit Schwerpunkt Diaspora. "Ich glaube nicht, dass die jungen Menschen so unpolitisch sind, wie gerade dauernd gesagt wird", meint sie. "Aber das Timing war einfach fatal. Wer kommt denn auf die Idee, solch eine Abstimmung mitten in die Prüfungswochen zu legen?!"

Sicherheitsnadeln als Zeichen für: Ich habe nichts gegen Ausländer

Tatsächlich waren unmittelbar nach dem Referendum viele Studierende vom Ergebnis so schockiert, dass etwa der Leiter des Goldsmiths-Programms "Visual Cultures" über Twitter einen besänftigenden, vage optimistischen Brief teilte. Gerichtet an die Studenten, die übers Wochenende schier durchgedreht waren vor Angst. Darin stand: "Egal, was uns in den kommenden unsicheren Monaten und Jahren bevorsteht, ihr werdet alle immer Teil des offenen Projekts Visual Cultures bleiben." Teil eines offenen Projekts - das klingt nicht sehr beruhigend.

Die Studentin vor der Goldsmiths-Bibliothek ist durchpolitisiert, spricht über Diskriminierungen von Klasse, Geschlecht und Rasse. Ja, nach unten treten sie jetzt wieder besonders gern, die feinen Nachfahren der Kolonialisten, auf alles, was ihnen fremd erscheint. Sie würde gerne mal Freud darauf ansetzen, sagt sie. Denn mit dessen Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie ließe sich die irre Psychopathologie der Engländer, ihr Großmachtswahn, sicher gut erklären. Melancholie, das war für Freud "großartige Ichverarmung". Die zeigt sich seit dem Referendum ganz offen auf der Straße.

Schon bevor Boris Johnson am vergangenen Montag in die Fernsehkameras sagte, dass "das Projekt Angst jetzt vorbei" sei, verzeichnete die Polizei einen dramatischen Anstieg rassistischer Übergriffe. 57 Prozent mehr als zuvor. Der Eingang des Polnischen Sozial- und Kulturzentrums in London-Hammersmith wurde mit Graffiti beschmiert, achtjährige Kinder wurden von ihren Schulkameraden aufgefordert, "sich endlich zu verpissen". In den Lack von Autos deutschen Fabrikats wurden über Nacht Hakenkreuze und Genitalien geritzt.

Es gibt aber auch die Gegenbewegung: Die Menschen fangen jetzt an, Sicherheitsnadeln zu tragen. Als Erkennungszeichen für: Keine Angst, ich habe nichts gegen Ausländer! Im Ohrläppchen, so wie früher bei den Punks, würden die Nadeln sicher noch mehr auffallen. Die meisten tragen sie als Zeichen der Solidarität mit ihrer polnischen Putzfrau, ihrem pakistanischen Gemüsehändler, ihrem deutschen Kommilitonen - links über dem Herz. Die Post-Referendums-Sicherheitsnadel gegen das Auseinanderfallen der Gemeinschaft, wenn man so will.

Jetzt aber: weiter ins Zentrum, nach Westminster. Zwischen den Absperrgittern vor dem Parlament liegt ein übrig gebliebenes Transparent von der Solidaritätsdemo für den (Noch-)Labour-Chef Jeremy Corbyn: "Refugees Welcome". Schon mehrmals sind hier Anti-Brexit-Proteste vorbeigezogen. An diesem Nachmittag ist es gerade ruhig. Ein Kamerateam der BBC hat sich vor dem Eingang postiert, um PMs - Members of Parliament - vor die Kamera zu bekommen. Die meisten wimmeln ab, wollen nichts sagen.

"Wenn das so weitergeht, wird es Bürgerkrieg geben"

Nur ein hochgewachsener, sehr honorig wirkender Herr um die 70 bleibt stehen. Ein Tory-MP, der die Leave-Kampagne unterstützt hat. Er sagt, Schottland werde sich selbstverständlich nicht abspalten: "Fragen Sie mal Nicola Sturgeon, ob sie das wirklich ernst meint - sie wird Ihnen sagen: Natürlich nicht! Immerhin sind wir ja das Vereinigte Königreich, verstehen Sie? Vereinigt!!" Dass Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, in Brüssel längst mit Schulz und Juncker spricht, hat er anscheinend nicht mitgekriegt. Kaum ist er weg, schüttelt das BBC-Team die Köpfe: "Wenn das so weitergeht, wird es Bürgerkrieg geben", sagen sie.

Der Kameramann, um die 60, und die Redakteurin, um die 40, haben beide - "natürlich!" - für Remain gestimmt. Sie wirken mitgenommen. Ein zweites Referendum werde es sicher nicht geben, meinen sie, das würde ja die Demokratie ad absurdum führen. Doch selbst wenn es ein zweites Referendum gäbe: Es würde zum gleichen Ergebnis führen wie das erste, ist sich die BBC-Frau sicher - "weil es in unserem Land einfach viel zu viele Leute gibt, die sich schlicht weigern, sich ordentlich zu informieren".

Meint sie Leute wie den 28-jährigen Bauarbeiter, der nach seiner Schicht in der U-Bahn-Station Westminster in die Leere stiert? Kaum, denn er hat nicht gewählt. Warum nicht? "Weil ich nicht mehr zu wählen brauche." Weil es jemand anders für ihn tut? "Weil die Bank of England in Privathand ist, Geld druckt und teuer an unsere Regierung verkauft." Brexit, das Wort löst bei ihm einen immer irrer werdenden Monolog aus - über die Freimaurer, über die Überwachungs-Chips, die allen von Glaxo-Smith-Kline eingepflanzt werden. Die einfahrende U-Bahn beachtet er gar nicht: "Ich sehe Destabilisierung, ich sehe Chaos, ich sehe den Dritten Weltkrieg." Zum Abschied wünscht er noch einen schönen Rest vom Leben.

So paranoid könnte ein Rundgang durch das Post-Referendums-London enden. Aber es gibt ja auch die Hoffnung: Eine Umfrage unter den Studierenden der renommierten London School of Economics and Political Science (LSE) ergab, dass 47 Prozent der Studierenden zwischen 18 und 24 Jahren zum Heulen zumute war, als sie vom Ergebnis erfuhren, und dass die Tränen auch in Wut und Ekel umschlugen. Wird mit der Wut dieser jungen Menschen, die einmal in der City of London - oder einem anderen Finanzzentrum wie Frankfurt oder Paris - arbeiten wollen, etwas anzufangen sein?

Eine 20-jährige LSE-Studentin kommt aus einem der Schulgebäude. Erst will sie nichts sagen, mit Hinweis darauf, dass sie als Spanierin ja nicht habe wählen dürfen. Dann redet sie sich doch in Rage: Ihre britischen Kommilitonen hätten tatsächlich fast alle geheult. Schlechtes Gewissen, Angst, Scham, Wut. Für sie selber habe der Brexit aber zum Glück keine Konsequenzen, denn ihren Ausbildungsvertrag habe sie ja schon vor zwei Jahren unterschrieben, und an den Konditionen dürfe sich ja nichts ändern. Sollte allerdings ihre jüngere Schwester auch mal in London studieren wollen: Tja, für die könnte es sehr viel teurer werden.

Mit Workout-Endorphinen und Humor gegen die Verunsicherung

Ob es nicht vielleicht aber auch problematisch sei, dass fast alle nur über die negativen Konsequenzen des Brexit für ihr eigenes Leben sprechen, aber kaum darüber, dass hier auch etwas ganz grundsätzlich zerstört werden könnte: Arbeit und Träume von Generationen ehemals verfeindeter Europäer? Da zuckt sie mit den Schultern: "Weiß nicht. Meine Oma in Spanien sagt: Wir waren in eurem Alter viel erwachsener als ihr. Meine Oma hat den Krieg erlebt. Wir hatten so was nicht. Der Brexit ist wohl das erste wichtige Ereignis in unserem Leben. Wir interessieren uns sonst ja nur für Party und Fitness. Schau mich an: Ich komme gerade aus dem Gym!"

Sie lacht, ihre Haare sind noch nass. Ja, mit Workout-Endorphinen und Humor gegen die Verunsicherung, das machen in London gerade viele so. Doch am Samstag entluden sich die Emotionen dann auch in einer friedlichen, aber höchst spannungsgeladenen Demonstration. Weitgehend junge Menschen, vereint in ihrer Ablehnung einer Wahl, die sie erst nicht als ihre eigene empfunden haben, jetzt aber doch. "Un-fuck my future" stand auf einem Plakat, das ist schwer zu übersetzen, bedeutet in etwa, macht den Mist schnell wieder rückgängig. Es heißt aber vor allem: Noch ist London nicht verloren.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3060800
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.07.2016/jobr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.