Brexit:Noch ist London nicht verloren

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Anti-Brexit-Proteste in London

"Wir sind die 48 Prozent!", riefen die Demonstranten in London am vergangenen Samstag. Nicht alle, die gegen den Brexit protestierten, waren so jung.

(Foto: Paul Hackett/Reuters)

Nach dem Brexit-Votum bleibt das Gefühl eines Generationenkonflikts. Ein Rundgang durch London zeigt: So einfach ist das alles nicht.

Reportage von Jan Kedves, London

London nach dem Brexit. Downing Street, Westminster, die Kreditwürdigkeit im Chaos. Zugleich wirkt die Stadt so wie immer. Vor den Bushaltestellen warten brav die Schlangen, nach 18 Uhr wanken die Betrunkenen durch die Straßen, in der U-Bahn sitzen Rastafari, Banker, Japanerin und Rentner nebeneinander. War dieses fast schon utopisch durchmischte London nicht mal Vorbild für Europa? Jetzt heißt es, der Brexit werde Europa zerreißen. Wenn er denn überhaupt kommt. Und die Jugend? Einerseits hieß es, die Alten nähmen ihr die Zukunft weg. Andererseits haben sich die 18- bis 24-Jährigen überstimmen lassen. In ihrer Altersgruppe lag die Wahlbeteiligung bei 36 Prozent. Wie interessant ist denn die Zukunft?

Interessant genug zumindest, um - wie etwa am vergangenen Samstag - auf die Straße zu gehen und zu Zehntausenden gegen den Brexit zu demonstrieren. Mit Slogans, die von der Occupy-Bewegung entliehen sind: "Wir sind die 48 Prozent!" Und immer wieder: "I love EU" - EU natürlich ausgesprochen wie "you".

Es sind ziemlich wahnsinnige, widersprüchliche Tage in dieser Stadt. Man kann nur versuchen, sich ein Bild von London zu machen. Am besten per U-Bahn, mit der die einfache Fahrt aktuell umgerechnet 5,90 Euro kostet. Vor der Wahl waren es noch 6,44 Euro.

Wo sind denn nun all jene, die für den Brexit gestimmt haben?

Ein Rundgang durchs Post-Referendums-London muss ganz am Rand beginnen, in Hillingdon, weit draußen im Westen. Es ist einer der wenigen Bezirke hier, in denen die EU-Gegner in der Mehrzahl waren, 56 Prozent. Die oberirdische Endstation könnte trister kaum sein, ansonsten entspricht Hillingdon nicht dem Bild, das man sich vom mutmaßlich rechtslastigen Viertel mit mutmaßlich hoher Arbeitslosigkeit macht. Pakistani, Chinesen, Schwarze. Freundliche Geschäftigkeit. Es regnet, ein asiatisch aussehendes Mädchen und eine junge Muslima mit Kopftuch laufen vorbei. Sind sie schon 18? Ja, sagen sie, sie hätten gewählt. Mehr wollen sie nicht sagen, sie müssten dringend weiter.

Deutsche Zeitung? Ein 22-jähriger Student - blond, hippe Sneakers, seinen Namen will er nicht verraten, wobei Namen in dieser Geschichte eigentlich auch nicht wichtig sind - ist auskunftswilliger. Er hat "Remain" gewählt, "als einziger in meiner Familie. Meine Mutter hat ihre Entscheidung am nächsten Morgen sofort bereut." Warum sie gegen die EU gestimmt hat? "Ach, sie liest nur The Sun und Daily Mail, sie hat sich von der Panikmache mitreißen lassen." Die niedrige Wahlbeteiligung seiner Altersgenossen finde er "eine Schande". Er selbst wolle später im europäischen Ausland arbeiten.

Wo sind denn hier nun diejenigen, die "out" gewählt haben? Die vom Brexit begeistert sind? Ein rothaariger, pickliger, sehr höflicher Junge bleibt stehen. 18 Jahre ist er alt, hat zum ersten Mal gewählt. Was, wenn das Parlament den Brexit jetzt doch nicht vollziehen würde oder es gar ein neues Referendum gäbe? "Dann würde ich mir ziemlich verkohlt vorkommen." Warum will er raus aus der EU? "Weil 'In Vielfalt geeint', das offizielle Europamotto, zwar ein schönes Motto ist, aber es zu weit geht, wenn in den einzelnen Mitgliedstaaten die Vielfalt verloren geht, während wir hier unsere Kultur verlieren. Abgesehen davon wollen wir über uns selbst bestimmen und nicht vom Europäischen Parlament regiert werden, das wir nicht gewählt haben."

Ja, dass das Europäische Parlament ihnen bis ins Allerletzte vorschreibe, was sie zu tun und zu lassen hätten - diesen Mythos haben Boris Johnson und Nigel Farage den Briten wirklich tief in die Köpfe gehämmert. Seltsam nur, dass sie ausgerechnet mit Blick auf Brüssel jetzt ihre Liebe zu mehr, zu direkterer Demokratie entdecken, und nicht auch mit Blick auf London. Denn wer auch immer im September die Nachfolge von David Cameron antreten kann, wird vielleicht gar nicht vom Volk gewählt. Das House of Lords wird sowieso nie vom Volk gewählt. Ganz zu schweigen von der allerbeliebtesten Frau im ganzen Land, die auf ihre späten Tage nun auch noch ziemlich politische Reden hält: die Queen.

Was der Brexit mit der Queen, überhaupt mit der britischen Monarchie und der fortwährenden Trauer der Briten über den Verlust ihres Empires zu tun hat, beschäftigt eine Studentin des Goldsmiths College in New Cross, im Süden der Stadt. Sie steht vor einer der Bibliotheken und macht gerade Zigarettenpause. Sie ist zweifache Mutter, ihre Familie hat afrokaribischen Hintergrund, sie ist britische Staatsbürgerin und Studentin der Psychosoziologie mit Schwerpunkt Diaspora. "Ich glaube nicht, dass die jungen Menschen so unpolitisch sind, wie gerade dauernd gesagt wird", meint sie. "Aber das Timing war einfach fatal. Wer kommt denn auf die Idee, solch eine Abstimmung mitten in die Prüfungswochen zu legen?!"

Sicherheitsnadeln als Zeichen für: Ich habe nichts gegen Ausländer

Tatsächlich waren unmittelbar nach dem Referendum viele Studierende vom Ergebnis so schockiert, dass etwa der Leiter des Goldsmiths-Programms "Visual Cultures" über Twitter einen besänftigenden, vage optimistischen Brief teilte. Gerichtet an die Studenten, die übers Wochenende schier durchgedreht waren vor Angst. Darin stand: "Egal, was uns in den kommenden unsicheren Monaten und Jahren bevorsteht, ihr werdet alle immer Teil des offenen Projekts Visual Cultures bleiben." Teil eines offenen Projekts - das klingt nicht sehr beruhigend.

Die Studentin vor der Goldsmiths-Bibliothek ist durchpolitisiert, spricht über Diskriminierungen von Klasse, Geschlecht und Rasse. Ja, nach unten treten sie jetzt wieder besonders gern, die feinen Nachfahren der Kolonialisten, auf alles, was ihnen fremd erscheint. Sie würde gerne mal Freud darauf ansetzen, sagt sie. Denn mit dessen Unterscheidung zwischen Trauer und Melancholie ließe sich die irre Psychopathologie der Engländer, ihr Großmachtswahn, sicher gut erklären. Melancholie, das war für Freud "großartige Ichverarmung". Die zeigt sich seit dem Referendum ganz offen auf der Straße.

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