Brexit-Kolumne "Affentheater":Was lernen wir daraus?

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Der Brexit soll diese Woche tatsächlich stattfinden. Werden mit ihm, wie manche befürchten, Hungersnöte und Ausschreitungen über das Vereinigte Königreich hereinbrechen? Oder gibt es nicht doch auch positive Aspekte?

Kolumne von A. L. Kennedy

Der Brexit hat uns bereits jetzt geschätzte 80 Milliarden Pfund gekostet. Der laufende Brexit-Schaden für unsere Wirtschaft beträgt knapp über 700 Pfund pro Sekunde. Bis Ende 2020 könnten wir eine Summe, die fast so hoch ist wie sämtliche Beiträge, die wir jemals an die EU gezahlt haben, im Grunde auch gleich in einen Häcksler geworfen haben. Wir müssten uns um so viele dringende Probleme kümmern - unser versagendes Gesundheitssystem, brauchbaren Hochwasserschutz und CO₂-Rückhaltung, damit nicht ein Fünftel unseres landwirtschaftlich nutzbaren Bodens im Meer versinkt. Stattdessen zahlen wir für den Brexit.

Aber können wir auch irgendetwas Positives daraus ziehen? Können wir etwas lernen?

1.) Lügenhafte Lügner, die ständig lügen, nicht gewähren lassen. Die britischen Medien, unfassbar geschwächt durch schlechte Ausbildung, schlechte Finanzierung, die undemokratischen Agenden ihrer schwerreichen Besitzer, haben einen Keil zwischen Massenmeinung und informierte Meinung getrieben. Unsere Presse lügt im Namen anderer Lügner wie des Killerclowns Popo, unseres Premierministers - früher mal Journalist, gefeuert fürs Lügen, früher mal Kulturminister im Schattenkabinett der Tories, gefeuert fürs Lügen - und jetzt irgendwie in Amt und Würden. In Sachen öffentliches Vertrauen in Institutionen liegen wir im Edelman Trust Barometer jetzt an vorletzter Stelle - knapp vor Russland. Sie, die Sie nicht in Großbritannien sind, erkennen Sie um Ihrer eigenen Sicherheit willen die Realität und halten Sie sie fest. Das ist schmerzhaft und kompliziert, aber dieses Wissen schützt uns.

2.) Recyceln. Entweder sofort ab dem 31. Januar oder ungefähr ein Jahr später werden wir unter Versorgungsengpässen leiden. Die Versprechungen eines "reibungslosen" Handels waren so verlässlich wie Popos Versprechen an seine Frauen, seine unzählbaren Kinder und seine Freundinnen. (Und er hat uns sauberes Trinkwasser versprochen, was ein wenig beängstigend klingt. Die Chemikalien, mit denen wir unser Wasser reinigen, müssen importiert werden.) Wir führen etwa 30 Prozent unserer Nahrungsmittel aus der EU ein und nur knapp über 10 Prozent von anderswo, von anderen Gütern gar nicht zu reden. Verzögerungen bei EU-Lieferungen werden auch alles andere verlangsamen, und die Preise für das, was noch bei uns ankommt, werden steigen. Also können wir umweltbewusst werden - repair, reuse, recycle. Sie können gern mitmachen beim Retten des Planeten, auch wenn Sie 2021 immer noch Bananen bekommen.

3.) Horten. Unternehmen, die früher Gebinde mit 48 Portionen gefriergetrockneter Käsemakkaroni für Atombunker oder Katastrophenschutz lieferten, verpacken ihre Produkte jetzt neu als Brexit-Boxen. Wir unterwerfen uns also freiwillig dem kulinarischen Regime eines Nuklearkrieges. Und diese Boxen sind groß - die ersten drei Monate werden die schlimmsten. So stapeln sich in den Heimen der Menschen Bunkereintopf, Dosenwasser, Dynamo-Taschenlampen und -Radios, Wärmefolie, Campingkocher und Gasflaschen. (Es wird zu Stromausfällen kommen.) Medikamente sind schwieriger auf Vorrat zu bekommen. Viele davon werden importiert, und noch viel mehr Verpackungen und Verabreichungsmittel. Ernsthaft kranke Briten, die dringend Medizin brauchen, unterliegen bereits einer Rationierung. Insulin wird irgendwann alle sein. Die Materialien für Bestrahlungen werden nicht rechtzeitig eintreffen. Aber die gute Nachricht ist: Unser umfangreicher Vorrat an Leichensäcken ist nicht umsonst angelegt. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Großkinder ebenso leben müssen, dann kämpfen Sie in unserem Namen gegen den Klimawandel - wir selbst haben größtenteils anderes zu tun.

Wir spenden Lebensmittel, wir pflanzen Bäume, wir lächeln solidarisch und voller Hoffnung

4.) Selbstsorge. Womöglich wird das Kriegsrecht eingeführt, wie in den Geheimdokumenten der "Operation Yellowhammer" vorgesehen (Regierungsmaßnahmen für einen harten Brexit), aber regelmäßige sportliche Betätigung und gute Ernährung jetzt können für größere Widerstandskraft, Energie und eine positive Einstellung später sorgen. Überall auf der Welt sind Menschen, die Freiheit und Demokratie lieben, sehr besorgt. Doch es ist besser, der Verzweiflung zu entgehen und sich, wann immer möglich, nützlich zu machen, aktiv und innovativ zu sein. Wir erzählen uns sogar noch Witze, wie diesen: "Die schlechte Nachricht ist, dass wir im ersten Jahr nach dem Brexit nur die Hälfte der Bevölkerung ernähren können. Die gute Nachricht: Danach wird es gerade so reichen."

5.) Freundlichkeit. Indem wir unsere Techniken des Schlangestehens wieder einüben und unsere Nutzung der toxischen sozialen Medien einschränken, versuchen wir, die schlimmsten Fehlentwicklungen unserer Zivilgesellschaft zurückzudrehen. Wir fangen an, uns wieder mit Freundlichkeit zu begegnen. Täglich wird uns die Lüge verkauft, dass alle Menschen, die wir nicht kennen, entweder Trickbetrüger sind oder uns ans Leben wollen oder beides. Dadurch sollen wir paranoid und gestresst werden und schlechte Entscheidungen treffen - aber wir können uns auch entscheiden, stattdessen freundlich zu sein. Dann werden wir glücklicher. Wir sollen uns so wenig umeinander und um unsere Umwelt kümmern wie unsere Führung und unsere Eliten - also kümmern wir uns mehr. Wir spenden an Lebensmitteltafeln, wir pflanzen Bäume, wir lächeln solidarisch und voller Hoffnung. Wer sein Leben so ausrichtet, dass er oder sie plötzlich, wie aufregend, nicht mehr mit Geschrei, Lügen oder Schlägen auf andere reagiert, fühlt sich gut, ermächtigt, handlungsfähig. Der Journalist Tom Junod beschrieb Mr. Rogers, den stillen Helden des amerikanischen Kinderfernsehens, als "einen Mann von tatkräftiger und hartnäckiger Freundlichkeit" - und als einen Mann von ungeheurem Einfluss. Auch wir lernen, tatkräftig und hartnäckig zu sein. Jeder noch so beschissene Tag wird dadurch besser, und all unsere Tage sind beschissen.

Aus dem Englischen von Ingo Herzke.

© SZ vom 28.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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