200 Jahre Bremer Stadtmusikanten:Vier Outlaws im Wald

Bremer Stadtmusikanten

Vorsicht, Stadtmusikanten: In der Illustration von Karl Fahringer sehen die Tiere zum Fürchten aus.

(Foto: Karl Fahringer, Sammlung Schwarzwälder / Aus dem Katalog "Tierischer Aufstand. 200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft" der Kunsthalle Bremen in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv Bremen, 23. März bis 1. September 2019)
  • 1819 erschien in den Grimmschen "Kinder- und Hausmärchen" erstmals die Bremer Stadtmusikanten.
  • Die Geschichte von den vier alten Nutztieren, die nach Bremen flüchten wollen, sticht aus den anderen bekannten Grimmschen Märchen deutlich hervor.
  • Die Willkür, mit der die Tiere von ihren Herren behandelt werden, entsprach den Erfahrungen der Mägde und Knechte dieser Zeit.
  • Dass die Außenseiter ausgerechnet "Bremer" Musiker sein sollten, sah man in der Hansestadt selbst zunächst skeptisch.

Von Barbara Galaktionow

Die Beine des Bronze-Esels sind schon ganz blank gerieben. Denn es soll Glück bringen, sie zu umfassen. Aber auch das Maul des Tiers lockt offenbar dazu, es zu streicheln, so glänzt es. Touristen lassen sich gerne mit der filigranen Plastik der Bremer Stadtmusikanten neben dem Rathaus der Stadt ablichten, die Gerhard Marcks 1951 schuf. Anmutig stehen da Esel, Hund, Katze und Hahn in Dreiecksform aufeinander.

Die markante Tierpyramide findet sich auf Prospekten, Merchandise-Artikeln, auf Schildern und Websites von Bremer Firmen und Institutionen sowie auf Fanartikeln vom heimischen Fußballverein Werder. Seit ein paar Jahren zieren die vier Tiere zudem das Logo der Stadt - sie haben den traditionellen Bremer Schlüssel abgelöst. Die Bremer schmücken sich gern mit den Tierfiguren. Das war keineswegs immer so. Mit den räudigen Gestalten aus dem Märchen, das die Brüder Grimm 1819, also vor 200 Jahren, in der zweiten Auflage ihrer "Kinder- und Hausmärchen" erstmals veröffentlichten, wollte sich die stolze Hansestadt lange Zeit nicht identifizieren.

"Diese vier Tiere sind wahrgenommen worden als das, was sie bei den Grimms wirklich sind, nämlich als Outlaws", sagt Konrad Elmshäuser, der sich als Historiker und Leiter des Bremer Stadtarchivs mit der Stadtgeschichte wie auch dem Märchenstoff auskennt. Tatsächlich sticht die Geschichte von Esel, Hund, Katze und Hahn, die sich in der Hoffnung auf ein besseres - oder überhaupt ein - Leben auf den Weg nach Bremen machen, aus den anderen Grimmschen Märchen deutlich hervor. Hier geht es nicht um Prinzen, die unschuldige Frauen erretten, oder um schelmenhafte Glücksritter. Hier geht es um das Schicksal von vier alten, abgearbeiteten Nutztieren, die ihre besten Tage hinter sich haben.

Die Tiere haben lange Jahre ihrer Herrschaft "treu gedient", wie es im Märchen heißt. Aber nun, da die Kräfte des Esels zu Ende gehen, da der Jagdhund sich müde gelaufen hat, die Zähne der Katze stumpf werden und auch die Dienste des Hahns offenbar nicht mehr so dringend gebraucht werden, soll es ihnen an den Kragen gehen. Der Esel soll "aus dem Futter geschafft", der Hund erschossen, die Katze ersäuft werden und der Hahn als Suppenbeilage im Kochtopf seiner Herrschaft landen. Doch angeführt vom Esel machen die Tiere sich gemeinsam auf die Flucht. Im wohlhabenden Bremen, so die Idee des Lastentiers, könnten sie als Stadtmusikanten ihr Auskommen finden.

Die Tiere ersinnen eine List - und vertreiben die Räuber

"Etwas Besseres als den Tod findest du überall", sagt der Esel zur Katze, die als letzte zur Tiertruppe stößt - ein schlagenderes Argument, sich auf den Weg zu machen, könnte es kaum geben. In Bremen kommen die Tiere allerdings nie an. Denn auf dem Weg dorthin stoßen sie im Wald auf eine Hütte, in der Räuber an einem mit Essen und Trinken beladenen Tisch sitzen und schlemmen. "Das wär was für uns", spricht der Hahn aus, was auch seine Kumpane finden.

Und so ersinnen die vier Tiere gemeinsam eine List, um die Räuber zu vertreiben. Bedrohlich aufeinandergetürmt und mächtig Lärm schlagend fallen sie in die Räuberhütte ein - mit dem gewünschten Effekt. Als einer der Räuber es dennoch wagt, in der Nacht noch einmal zurückzukommen, wird er durch Kratzen, Tritte, Bisse und Geschrei endgültig verjagt - und fortan leben die Tiere unbehelligt in der Waldhütte. Statt in der Hansestadt in vermeintlich sicherer Stellung landen die drei Vierbeiner und der Hahn an einem Außenseiterort, sind damit aber ganz zufrieden.

Es ist ein eigentümliches, aber in einer Märchenlogik stimmiges Happy End. "Die Botschaft lautet, dass man sich Freiheit und Gerechtigkeit nur erkämpfen kann, wenn man sich mit anderen zusammentut", sagt Dieter Brand-Kruth. Der Autor hat über die Stadtmusikanten promoviert und jüngst das Buch "Auf nach Bremen. Den Stadtmusikanten auf der Spur" veröffentlicht. Die gemeinsame Erstürmung des Räuberhauses mittels der Tierpyramide stehe für die Befreiung von Zwängen, für Aufbruch und Solidarität. Die verscheuchte Bande steht dagegen schlicht für das Böse.

Für die alten Tiere reiche es, dass sie nun ein Obdach hätten und quasi im Guten angekommen seien, erläutert auch Stadtarchivar Elmshäuser: "Es ist ein Märchen und keine Geschichte von der Sozialversicherung." Das Ende zeige, dass die Bremer Stadtmusikanten ein "echtes Volksmärchen" seien und kein literarisches, eines, das in der Zeit um 1800 lebendig erzählt wurde.

Gesinde schlagen - explizit erlaubt

Wie viele der Grimmschen Märchen sollen auch die Stadtmusikanten Überlieferungen aus der ländlichen Unterschicht entstammen. Galt das Gesinde - und genau dafür stehen die vier Stadtmusikantentiere - früher oft als Teil der Familie, so lösten sich traditionelle Bindungen im Zuge der beginnenden Frühindustrialisierung immer mehr auf. Wirtschaftlich schwierige Jahre, eine verstärkte Binnenmigration und häufigere Personalwechsel führten zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Herrschaften und Mägden und Knechten.

In sozialen Notlagen und im Alter sah sich das Gesinde oft alleingelassen. "Altersarmut war gerade im Umfeld von Gesinde und einfachen Leuten allgegenwärtig", stellt Elmshäuser fest. Die Auswirkungen der Napoleonischen Kriege von 1792 bis 1815 verstärkten zusätzlich das Gefühl, in einer Welt zu leben, die in Auflösung begriffen war. Andererseits hielten zumindest in den Kreisen der Gebildeten auch die Ideen der Französischen Revolution Einzug und damit die Vorstellung allgemeiner Menschenrechte.

Die Grundherren hingegen beunruhigten die zunehmende Mobilität und womöglich gar Aufmüpfigkeit der Bediensteten. Um 1800 wurden daher immer häufiger "Gesindeordnungen" erlassen, die das Verhältnis zwischen dem Gesinde und ihrer Dienstherrschaft regelten - vor allem im Sinne der letzteren. Mägde und Knechte wurden einer sehr weitgehenden Verfügungs- und Befehlsgewalt ihrer Grundherren unterworfen. Sie mussten Beleidigungen und sogar körperliche Züchtigung hinnehmen. Wer sich unerlaubt von Hof und Grund entfernte, den verfolgte die Polizei. Im Gegenzug fixierte der Staat die - meist eher geringfügigen - Versorgungspflichten gegenüber dem Gesinde schriftlich, damit galten sie als verbindlich.

Bremen zum Ort des Stadtmusikanten-Märchens zu heben, war kein Zufall

Die Willkür, mit welcher die Dienstherren die Stadtmusikanten im Märchen behandeln, entsprach also den Erfahrungen der Mägde und Knechte dieser Zeit. Die Idee, sich einem solch rigiden Reglement durch Flucht in eine Stadt wie Bremen zu entziehen, lag da durchaus nah. "Bremen war eine Freie Hansestadt, wer dort länger als ein Jahr und einen Tag lebte, war frei von seinem Lehensherren", erläutert Brand-Kruth einen Rechtsgrundsatz des Mittelalters, der die Anziehungskraft der Stadt noch im frühen 19. Jahrhundert prägte. Eine Dürreperiode um 1816 in Westfalen führte zu einer Auswanderungswelle entlang der Weser in Richtung Bremen.

Dass die unteren Schichten in Bremen tatsächlich ein freieres Leben erwarten durften als in den engen Bahnen des ländlichen Lebens, zeigt eine zeitgenössische Klage über die "Sittenlosigkeit" des Gesindes in der Hansestadt. So beschwerte sich der Herausgeber des Hanseatischen Magazins und spätere Bremer Bürgermeister Johann Smidt über "groben Eigennutz, Mangel der Anhänglichkeit an die Herrschaften, vor allem aber über zunehmende Ueppigkeit und Verschwendung, die sich vorzüglich bei den Dienstmägden in auffallender Kleiderpracht zeigt".

Bremen als konkreten Ort in den Titel des Stadtmusikanten-Märchens zu heben, war sicher eine bewusste Entscheidung der Grimm-Brüder. Ob sie die Stadt schon in ihren Quellen vorfanden oder sie dem Märchen selbst hinzufügten, ist zwar nicht ganz klar. Doch angesichts der Kunstfertigkeit, mit der die Grimms den überlieferten Erzählstoffen stets zu Leibe rückten, war dies bestimmt kein Punkt, den sie einer zufälligen Überlieferung überlassen hätten.

Dass in einem Grimmschen Märchen überhaupt eine Stadt derart prominent auftaucht, ist nahezu einmalig. Ist doch sonst gerade das zeit- und ortlose "Es war einmal" ein wesentliches Merkmal ihrer Geschichten. Märchenhaft bleiben die Bremer Stadtmusikanten dennoch. Denn das anvisierte Ziel spielt letztlich keine Rolle, die Tiere erreichen die Stadt ja nie. Bremen bleibt eine Wunschvorstellung, ein utopischer Ort.

Der rauen Wirklichkeit hätte die Idee der Märchentiere von einem schönen Leben in Bremen wohl ohnehin kaum standgehalten. "Was in dem Märchen als utopischer Entwurf entwickelt wird - wir werden Stadtmusikanten und lassen es uns gut gehen -, ist genau um die Zeit aus der Realität gefallen", erläutert Stadtarchivar Elmshäuser. Solcherlei Musikanten waren nämlich nicht gefragt.

Bremer Stadtmusikant? - Dann doch lieber Musiklehrer

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit hatten sich große Städte oft die aus ein paar Mann bestehenden Ratsorchester geleistet, die bei bürgerlichen Festen aufspielten, vor allem bei Hochzeiten. Die Stadtmusikanten genossen zeitweilig ein hohes Ansehen, hatten eigene Siegel oder Amtstrachten. Doch im Laufe des 18. Jahrhunderts war es damit vorbei, die kleinen Combos wurden immer weniger oder ganz abgeschafft. Die Organisation der Orchester als Zünfte fand Mitte des 18. Jahrhunderts ein Ende.

Der letzte Nachweis eines Bremer Stadtmusikanten stammt Elmshäuser zufolge aus dem Jahr 1809 - also zehn Jahre vor Erscheinen des Grimm-Märchens. Da klagte der "Raths-Musikus" in einem Schreiben, dass er von dem wenigen Geld nicht leben könne, das er einnehme. In Zukunft würde er daher gerne auch als Musiklehrer arbeiten. Das Leben als Stadtmusikant sicherte zu dieser Zeit allenfalls noch eine randständige Existenz.

Die Kennzeichnung der vier Außenseiter aus dem Märchen ausgerechnet als "Bremer" Musiker wurde daher bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht unbedingt als schmeichelhaft für die Stadt erachtet. Noch im Jahr 1863 mokierte sich der Hamburger Historiker Otto Beneke darüber, wie die Hansestadt Bremen - hoch angesehen, reich, mächtig - "jemals in einen solchen Mißcredit hat kommen können", dass sie zum Namensgeber der tierischen Musikantentruppe wurde.

Reisende suchten in der Stadt die Musikanten - und wurden enttäuscht

Die Bremer sahen sich jedenfalls lange nicht bemüßigt, sich den Märchenstoff zu eigen zu machen. Erst 1898 - fast 80 Jahre nach Erscheinen des Märchens - stellten sie eine Darstellung an einem prominenteren Ort auf, nämlich im Bremer Ratskeller. In der Bronzeplastik des Bildhauers Heinrich Möller türmen sich die Stadtmusikanten hoch und wild über den erschrockenen Räubern auf. Es sei ein "sehr lustiges Werk", befand ein renommierter Bremer Maler über die Plastik.

Der Wahrnehmung der Stadtmusikanten als Symbol für Bremen gab die Möller-Plastik enormen Aufschwung. Noch bis in die Dreißigerjahre hinein aber warnten honorige Bürger oder Behördenvertreter davor, dass die Stadt sich mit einem richtigen Denkmal im Stadtraum für die vier struppigen Tiere mächtig blamieren würde. Erst in den frühen Fünfzigerjahren wagte die Hansestadt mit der Aufstellung der heute so beliebten Bronzeplastik von Gerhard Marcks diesen Schritt.

Außerhalb Bremens freilich wusste man selten etwas von den Feinheiten der Bremer Rezeption. Bremen und die Stadtmusikanten - das galt als ein und dasselbe, schon wegen des Märchentitels. Bremer Geschäftsleute berichteten den Behörden in den Dreißigerjahren von enttäuschten Reisenden, die - offenbar in Unkenntnis der Märchenhandlung - erwartet hatten, in der Hansestadt auf die Stadtmusikanten zu treffen. So neu war das Phänomen der Verwechslung von Wahrheit und Fiktion also nicht, als die bodenständigen Bewohner des Glottertals ein halbes Jahrhundert später über Touristen staunten, die hier am Drehort der "Schwarzwaldklinik" vergebens nach Dr. Brinkmann aus der Fernsehseifenoper Ausschau hielten.

Nein, Esel, Hund, Katze und Hahn haben Bremen nie betreten. Und doch verdankt ihnen die Hafenstadt weltweit einige Bekanntheit: "Wenn die Menschen irgendetwas von Bremen wissen, dann sind es die Stadtmusikanten", sagt der Bremer Marketingprofessor Christoph Burmann, der das in mehreren europäischen Städten untersucht hat. Vier gedemütigte alte Tiere, die zu neuer Selbstbestimmung finden, sind dabei über die Kulturen hinweg ein Symbol der Hoffnung. Es hat schon schlechtere Wahrzeichen für eine Stadt gegeben.

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