Süddeutsche Zeitung

Bregenzer Festspiele:Ritter, Gaukler, Akrobaten

Bregenz feiert die Narren und die Fantasie: "Don Quijote" wird als Schauspiel sowie als Oper gegeben - und Verdis "Rigoletto" geht als Großkopftheater über die Seebühne. Das ist weitgehend fabelhaft.

Von Egbert Tholl

Am Ende will Sancho Panza doch kein König sein. Zweieinhalb Stunden hat er sich gewünscht, dass ihm Don Quijote ein Eiland schenke, auf dem er herrschen könne nach Gutdünken. So wollte er zufrieden sein, doch "ist einer zufrieden, bleibt ihm nichts mehr zu wünschen, und wenn man sich nichts mehr wünschen muss, ist Schluss". Also will er lieber nicht herrschen, sondern sich weiter in Aventiuren stürzen, auch wenn die meist übel ausgehen. Nur Don Quijote mag nicht mehr, er will seine Ruhe haben, will sterben, was er dann auch tut, nicht mehr als Ritter, sondern als Alonso Quijano, als ganz einfacher Mann. Wolfram Koch lässt dann Ulrich Matthes ganz sanft auf den Boden sinken, als bette er ein Kind zum Schlaf oder als wache er über die Ruhe einer Geliebten. Das ist sehr rührend, und diese Rührung stellt sich an diesem Abend nicht zum ersten Mal ein.

Das Deutsche Theater Berlin ist zu Gast bei den Bregenzer Festspielen und zeigt im dortigen Landestheater Miguel de Cervantes' "Don Quijote". Die Textfassung stammt von Jakob Nolte; inszeniert hat Jan Bosse mit zwei herrlichen Schauspielern, Ulrich Matthes und Wolfram Koch, mehr braucht es nicht, die beiden sind eine Welt zu zweit. Neu ist es nicht, dass bei den Festspielen auch Sprechtheater zu sehen ist, doch meistens waren dies Gastspiele, oft von den Häusern, die Ulrich Khuon leitete und leitet, also erst vom Thalia-Theater in Hamburg, nun vom Deutschen Theater. Ein wenig sensationell ist allerdings, dass es sich bei "Don Quijote" in Bregenz tatsächlich um die Premiere handelt. Bosses Inszenierung kommt erst im Oktober in Berlin heraus. Das Bregenzer Publikum ist von dem Abend derart begeistert, das den beiden Schauspielern der lang anhaltende Applaus schon peinlich wird. Offenbar geht es in Berlin hinsichtlich der Zuschauerreaktionen weniger enthusiastisch zu.

Gewünscht hatte sich die Produktion Elisabeth Sobotka, die Intendantin der Bregenzer Festspiele. Auf der riesigen Seebühne wird in diesem Jahr Verdis "Rigoletto" gezeigt, im Festspielhaus aber Jules Massenets Oper "Don Quichotte". Da diese, noch stärker als jede Stückfassung, nur einen Bruchteil des Riesenromans behandelt, wollte Sobotka ein Sprechstück, das Cervantes' Sprache ehrt, gegenüberstellen. Und sie bekam Jan Bosses Inszenierung. Mit zwei Großschauspielern. Was für ein Geschenk.

Bosse feiert die Kraft der Imagination. So wie Don Quijote alle möglichen Dinge, Menschen und Wesen sieht, die es nur in seiner Fantasie gibt, so muss der Zuschauer der Kraft des Erzählens folgen. Auf der Bühne steht nur ein Holzkasten, so groß wie ein Schiffscontainer, dessen Seiten man im Bedarfsfall herunterklappen kann. Sonst gibt es das Licht von Robert Grauel, ein bisschen atmosphärische Musik von Arno Kraehahn, einen Einkaufswagen voller Requisiten - und Nebel. Mal viel Nebel, mal dünne Fädchen, wenn Wolfram Koch mit einem kleinen Maschinchen herumtölpelt. Es gibt keine Riesen, die man besiegen kann, keine Schafe, die Don Quijote für fremde Heere hält, keine Windmühlen außer einem winzigen Hinweis darauf in der Beleuchtung. Es gibt auch keine Rosinante (Pferd) und keine Dulcinea, den von Don Quijote verklärten Bauerntrampel. Einmal mokiert sich Kochs Panza darüber, dass das Ganze ein bisschen sehr frauenlos sei und er sich eine Welt, die man sich selbst ausdenkt, doch ein wenig anders wünschte.

Ulrich Matthes und Wolfram koch gehen wunderbar sorgsam miteinander und mit der Sprache um

Allerdings: So wie er ausschaut, könnte das mit den Frauen ohnehin problematisch werden. Wolfram Koch trägt eine jeansfarbene Strampelhose, die er auch über den dicken Kissenbauch stülpen kann, dazu ein rotes T-Shirt mit weißen Blumen, das sich auch zum Kleid ausrollen lässt. Ulrich Matthes hat einen Helm aus Alufolie auf dem Kopf, darauf Blümchen, er trägt eine Toga und ein hauchdünnes Kettenhemdchen. Dann haben sie noch ein paar Ritter-Spielsachen. Zusammen wirken sie manchmal wie ein altes Ehepaar oder auch ein bisschen wie Lucky und Pozzo aus Becketts "Warten auf Godot", aber viel freundlicher. Während Ritter Matthes oft mit euphorischem Staunen die Welt in seinem Kopf betrachtet, umsorgt ihn Panza Koch mit erdverbundener Schlauheit. Sie gehen wunderbar sorgsam miteinander und mit der Sprache um, die Worte funkeln, dass es ein Pracht ist.

Aber: Der Abend ist dennoch mehr reizend als bedeutend. Es weht nur ein Fluidum von etwas Größerem durch die erzählten und im Spiel angedeuteten Geschichten. Dass Quijotes Narreteien einem Idealismus der Tat entspringen, dass dieser Idealismus an seine Grenzen kommt, wo das eigene Denken mit dem anderer kollidiert, ja, das erspürt man, aber es ist letztlich nur eine zarte Farbe zwischen den Schnurren. Was nichts daran ändert, dass man den beiden famosen Menschen da oben ungeheuer gern zusieht und zuhört.

In "Don Quichotte", der Oper, läuft erst einmal Werbung, der Spot einer Rasierermarke über Männlichkeitsklischees. Das hat nichts mit Sponsoring zu tun, regt aber einen Mann im Publikum auf, der sich laut über das dargebotene Männerbild echauffiert. Ein Schauspieler, natürlich, aber fürs Publikum im Festspielhaus fehl am Platz. Wüste Reaktionen, kurz vor Beginn einer Saalschlacht verdrückt er sich.

Die Oper "Don Quichotte" zeigt Varianten männlichen Verhaltens

Der Werbespot ist ein gelungener Teaser für Mariame Cléments Inszenierung. Die erzählt keine stringente Geschichte, das tut Massenets Oper eh nicht, sondern zeigt Varianten männlichen Verhaltens. Ankunft Don Quichottes als versponnener Zampano im putzigen Setting der Uraufführung von 1910; Quichotte und Pansa (in der Oper schreibt man ihn mit s) in einem Hotelbadezimmer, in dem der Ventilator in der Wand den Windmühlenwahn auslöst; Quichotte als Spiderman, der einer Straßengang Dulcinées geraubten Schmuck entreißt; Quichotte als schüchterner Trottel in einem modernen Büro, der seiner Chefin die Kette schenkt; schließlich Tod und Verklärung. Vor einer kleinen Bühne auf der Bühne sitzt Dulcinée wie im Kino, und Massenets Musik schenkt dem sterbenden Ritter eine Apotheose.

Bis dahin freilich treibt Clément mit Macht, Einfallsreichtum und Geschick dem Stück sein Pathos aus, ihr Mut zahlt sich aus, ihre Inszenierung ist eine große Belustigung. Leider macht der Dirigent Daniel Cohen da nicht mit und verharrt in indifferentem, pastosem Schönklang ohne größeren theatralischen Nutzen. Gábor Bretz schlägt sich wacker in der Riesenpartie des Don Quichotte, David Stout hat als Pansa schöne, wohlklingend menschliche Momente, Anna Goryachova ist als Dulcinée stimmlich überfordert. Aber sie spielt schön: In der Oper ist die Figur keine Bauerntochter, sondern eine angebetete Hure, die, wie sie Quichotte erklärt, ihn schon aus Berufsgründen nicht heiraten kann - in der Inszenierung geht es nicht, weil sie halt die Chefin ist. Aber der die Frauen vermissende Panza des Theaterstücks hätte in der Oper seine Freude gehabt.

Gilda steigt in einem Fesselballon weit über die Köpfe der Zuschauer auf, perfekt singend

Ist Don Quijote ein Narr aus der Kraft der eigenen Vorstellung, so ist Rigoletto einer aus Profession, Hofnarr beim frauenverschwendenden Herzog von Mantua. Philipp Stölzls Inszenierung auf der Seebühne vor 6900 Zuschauern funktioniert so gut wie dort seit der "Tosca" 2007 keine mehr. Die ganze Bühne von Stölzl und Heike Vollmer ist Rigoletto, in der Mitte der Kopf und der Kragen als Spielfläche, daneben zwei Hände mit Manschetten. Die rechte ist sehr beweglich und stellt, geballt zur Faust, Gildas häusliches Gefängnis dar. Die linke hält einen Fesselballon, der bis auf 50 Meter aufsteigen wird, mit Gildas entfliehender Seele. Auf diesen drei Spielflächen zaubert Stölzl, erfahrener Film- und Opernmann, ganz selbstverständlich Intimität. Die fehlt oft auf der Seebühne, hier sind gerade die Zweierszenen, Gilda mit Papa Rigoletto oder dem Herzog, berührend zart, da kann Enrique Mazzola auch ungeheuer fein mit den Wiener Symphonikern umgehen.

Die Premierenbesetzung ist fabelhaft. Vladimir Stoyanov ein zu Herzen gehender Narr, Stephen Costello ein stimmlich immer verführerischer werdender Herzog. Mélissa Petit als Gilda ist ein Ereignis. Turnt auch noch in vielleicht 20 Meter Höhe im Fesselballon, hängt ein Bein aus dem Korb - und ihrem perfekten Gesang tut das trotzdem keinen Abbruch. Einziges Rätsel: Weshalb soll sich so eine Frau in einen zynischen Verführer verlieben? Sich für ihn opfern?

Das Ganze spielt im Zirkus, inklusive Gaukler und Akrobaten, die viel können, ein bisschen nerven, aber Stölzl vermeidet jeden Effekt um des Effektes willen. Verdi vernichtet den Menschen Rigoletto, hier wird die Figur zerlegt. Dem Kopf, der lange fast lebendig wirkt, reagiert und zusieht, werden die Augen, Zähne, die Nase geraubt, er wird zum Totenkopf. Lange macht der Rigoletto des Bühnenbilds das Spiel des Herzogs mit, verschlingt Frauen, lässt zu "La donna è mobile" Damen wie Marionetten an den Fingern hängen. Doch zurück bleibt ein hohler, toter Schädel.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4533549
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.07.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.