Süddeutsche Zeitung

Brecht-Stück am Berliner Ensemble:Geisteraustreibung

Das Berliner Ensemble rückt in Suse Wächters wildem Puppenspiel "Brechts Gespenster" dem über allem schwebenden Dramatiker auf den Leib.

Von Peter Laudenbach

Im Berliner Ensemble gehen spätestens seit dem Ableben des berühmten Hausherrn vor 66 Jahren jede Menge Geister um. Nach dem Tod Bertolt Brechts war das BE immer beides: ein mehr oder weniger vitales Theater und ein Pilgerort der Brecht-Gemeinde (und als solcher völlig unabhängig vom aktuellen Bühnengeschehen eine Touristenattraktion). Seitdem muss jeder Intendant den Balanceakt beherrschen, mit den Brecht-Legenden zu glänzen, ohne sich vom historischen Ballast erschlagen zu lassen.

Oliver Reese, der jetzige Intendant, macht das ziemlich clever, also mit der richtigen Mischung aus Geschichtsbewusstsein und Ironie. Barrie Koskys "Dreigroschenoper" zum Beispiel war erfreulicherweise keine Nachhilfestunde in politischer Ökonomie, sondern pures Musical-Entertainment. In der vergangenen Spielzeit rückte eine klaustrophobische Inszenierung der unglücklichen Brecht-Geliebten Ruth Berlau mithilfe von VR-Brillen zu Leibe. Und jetzt unternimmt die wunderbare und sowieso nicht genug zu preisende Puppenspielerin, Puppenbauerin, Regisseurin und Autorin Suse Wächter auf der großen Bühne eine ziemlich lustige Geisteraustreibung. Der Abend heißt zwar "Brechts Gespenster", aber neben der exakt so wie auf alten Schallplatten krächzenden Brecht-Puppe hat die halbe Geisteswelt der jüngeren Geschichte ihre kurzen Auftritte in Form schrulliger, schön eigenwilliger Handpuppen: von Franz Kafka und Sigmund Freud bis zu Schrödingers Katze und dem Zottel-Marxisten Slavoj Žižek.

Karl Marx macht hier Armdrücken mit Gott, Marilyn Monroe hängt in der Ecke ab

Nur Žižeks großer Held Lenin bleibt Gott sei Dank die Auferstehung erspart. Er darf als Puppenleiche liegen bleiben, als wäre die Bühne sein Mausoleum. Auf der Vorbühne baumeln die Puppen an einem Gerüst wie im Archiv der Weltgeschichte. Ein paar Kollegen, die heute nicht zum Einsatz kommen, Marilyn Monroe oder Albert Einstein zum Beispiel, hängen im Hintergrund gemütlich ab, Überbleibsel aus einer früheren Arbeit von Suse Wächter, ihrem großen Abend über die "Helden des 20. Jahrhunderts". Die anderen Pupen machen sich mit Hilfe zweier Puppenspieler (der Regisseurin und Hans-Jochen Menzel) und der beiden formidablen Live-Musiker Martin Klingeberg und Matthias Trippner über Brecht-Songs und die großen Fragen der Weltrevolution her.

Sieben traurige Handpuppen dürfen "das Proletariat" verkörpern, aber auch das mit Tuba, Schlagwerk und elektronischen Klängen munter dargebotene Einheitsfrontlied kann sie nicht zu Helden des Klassenkampfes machen. Stattdessen predigt ihnen die aus ihrem Grab entstiegene Maggie Thatcher mit Totenkopf und mottenzerfressenem Leichenhemd frei nach Goethes Zauberlehrling ihre kleine Lektion in Neoliberalismus: "Massen, Massen, sei's gewesen, es gibt nur noch Einzelwesen!" Karl Marx macht Armdrücken mit Gott, zwei weiße alte Männer mit Vollbart und wildem Haupthaar. So viel zum Stand der postideologischen Entspanntheit am Berliner Ensemble.

Für einen bösen und sehr komischen Insiderjoke muss eine heute vergessene Größe des DDR-Theaters herhalten, der langjährige BE-Intendant Manfred Wekwerth, der mit der Rechthaber-Pedanterie des Funktionärs und ZK-Mitglieds etwas von Brechts "V-Effekt" krächzt. Pavarotti schmettert Brechts "Kinderhymne", und Henry Ford, der alte Effizienzfanatiker, rechnet vor, was die Brecht-Erben pro Minute an einem Brecht-Song verdienen. Weil ihm Brechts Agitprop-Erbauungs-Arie zum "Lob des Kommunismus" inhaltlich nicht so richtig gefällt, wird der Utopie-Überschuss wegrationalisiert, bis daraus ein "Lob des Kapitalismus" wird: "Er ist einfach, jeder versteht ihn." So kann man es natürlich auch sehen. Aber dank Žižek und Bernd Stegemann, dem Marxismus-gestählten Dramaturgen der Inszenierung, kommt zwischen all dem Spott für Brechts Klassenkampf-Kalendersprüche gegen Ende noch etwas Härte auf, wenn die Mittelschicht in Form deutscher Gartenzwerge verzweifelt strampelt, um auf der Rolltreppe nach unten irgendwie ihren Status zu halten und nicht heillos abzurutschen.

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