Süddeutsche Zeitung

Lateinamerika:Brasilien droht eine ultrarechte Militärdiktatur

Der Mord an der schwarzen Stadträtin Marielle Franco und die Verhaftung des Ex-Präsidenten Lula zeigen: Die brasilianische Gesellschaft ist aus den Fugen geraten.

Gastbeitrag von Marcelo Backes

In der sonntäglichen Messe in der Parochialkirche Ressurreição in Ipanema, Rio de Janeiro beschloss der 81-jährige Padre Mario, der Stadtverordneten Marielle Franco zu gedenken. Die Stadtverordnete war am 14. März zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes technisch präzise, professionell, brutal und feige hingerichtet worden. Sofort verließen zwei selbst ernannte "homens de bem", Angehörige der neuen Klasse der "Gutbürger" Brasiliens, laut pöbelnd die Kirche, indem sie den Priester, einen emeritierten Theologen der "Päpstlichen Katholischen Universität" von Rio de Janeiro, als Kommunisten beschimpften.

Auch Alfredinho, 74, Barbesitzer von "BipBip" in Copacabana, wollte Marielle in seiner Bar mit einer Schweigeminute gedenken. Er wurde daran von einem Streifenpolizisten gehindert, der gerade eine Pause hatte. Nachdem er angeblich attackiert worden war, kehrte der Polizist bewaffnet in die Bar zurück und warnte, er "sei vom Teufel besessen" und garantiere für nichts. Der Barbesitzer musste die Nacht auf der Polizeiwache verbringen, und sich zu seinem Versuch erklären, seine Trauer öffentlich zu bekunden. Dies nur zwei von unzähligen Ereignissen ähnlicher Art aus ganz Brasilien.

Währenddessen setzte Marília Castro Neves die Behauptung in die Welt, Marielle Franco sei mit 16 Jahren von dem Drogenhändler Marcinho VP schwanger geworden, von den Dealern des "Comando Vermelho" getötet worden und also nichts anderes als eine "gewöhnliche Leiche". Marília Castro Neves ist Berufungsrichterin, sie bekleidet eines der höchsten Ämter im Bundesstaat Rio de Janeiro. Ungeachtet der Tatsache, dass ihre Behauptungen gewissenlose Lügen sind, die jeder Grundlage entbehren: Ist die Berufungsrichterin der Ansicht, Marielle hätte es verdient, hingerichtet zu werden, wenn sie 22 Jahre zuvor von einem Drogenhändler schwanger geworden wäre?

Ein Verbrechen, allem Anschein nach kalt und lange im Voraus geplant

Marielle Franco wurde in Rio im Elendsviertel Maré geboren, sie kämpfte und studierte aufgrund der Quote - sie kam aus der Favela, sie war eine Frau und dazu noch schwarz - an derselben "Päpstlichen Katholischen Universität" wie der Priester, der ihrer gedenken wollte, und machte danach eine glänzende politische Karriere: 2016 wurde sie als die Frau mit den meisten Stimmen in ganz Brasilien zur Abgeordneten des Stadtparlaments gewählt. Eine Erfolgsgeschichte. Marielle setzte sich für die Menschenrechte ein, sie kämpfte gegen die Gewalttätigkeit der Polizei in Brasilien, von der jeder einigermaßen vernünftige Mensch weiß, dass sie horrende Ausmaße angenommen hat. Doch ebenso verteidigte sie ungerecht behandelte Polizisten.

Marielle wurde hingerichtet nach einem Gespräch mit schwarzen Frauen in der "Casa das Pretas" in Lapa - ein Verbrechen, das allem Anschein nach kalt und lange im Voraus geplant worden war. Ausgeführt von professionellen Killern, die dieselbe Munition benutzten, wie sie schon 2015 bei dem Gemetzel an 17 Personen benutzt worden war, bei der Polizisten im Bundesstaat São Paulo die Hauptrolle gespielt haben.

Ich bin männlich, weiß und heterosexuell, also nicht Teil der Risikogruppe in einem Land, das den Schwarzen gegenüber zum Genozid neigt. Man muss es so deutlich sagen, denn die Zahlen nähern sich denen eines Genozids. Die 2016 vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Senats veröffentlichte Statistik über Morde an Jugendlichen zeigt, dass jährlich 23 100 Schwarze im Alter zwischen 15 und 29 Jahren getötet werden, also 63 pro Tag, alle 23 Minuten einer. Etwa 77 Prozent aller Getöteten in Brasilien sind dunkelhäutig, obwohl sie nur knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. In einem Land, das überdies zutiefst patriarchalisch und machistisch ist vor allem einer schwarzen Frau gegenüber, die in der Favela - der Sklavenhütte von heute - geboren wurde. Einer Frau, die also eigentlich prädestiniert war, Hausangestellte im weißen Herrenhaus zu werden, sich diesem Schicksal aber entschieden verweigerte.

In dem Roman "Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas" (1881) des schwarzen, großartigen Schriftstellers Machado de Assis nutzt der weiße Sohn des Hausherrn, Brás Cubas, beim Spielen völlig selbstverständlich den schwarzen Knaben Prudêncio, einen Sklaven, als Reitpferd. Er legt ihm Zaumzeug an und benutzt die Peitsche, um auf ihm durch die Stube zu reiten. Verblüfft sieht Cubas viele Jahre später den erwachsenen Prudêncio einen Schwarzen verprügeln, den er gekauft hat. Bis heute hat Brasilien nicht bemerkt, was Machado de Assis sagen wollte: Statt den Jungen Prudêncio zu bestrafen, sollten wir uns vielmehr eine Gesellschaft vor Augen halten, die ihre "Bürger" von Geburt an in weiße Reiter und schwarze Pferde einteilt. Und uns klarmachen, dass die schwarzen Pferde, die von der Unveränderlichkeit dieser Struktur wissen, den einzigen Ausweg oft darin sehen, durch Gewalt selbst zum Reiter zu werden.

Doch Machado de Assis war subtil, auch weil er wusste, dass der, der in Brasilien die Wahrheit direkt ausspricht, umgebracht werden kann, und das auch 140 Jahre später noch, auch heute. Selbst ich, der ich männlich, weiß und heterosexuell bin, habe inzwischen Angst, umgebracht zu werden um dessentwillen, was ich sage.

Es ist eine völlig aus den Fugen geratene Gesellschaft, in der ein Präsident, der nicht einmal zum Präsidenten gewählt wurde und jeder Legitimität entbehrt, aus politischen Gründen eine militärische Intervention in Rio de Janeiro durchführen lässt und dabei mehr als alles andere persönliche Interessen verfolgt. In der besagter Präsident und seine Spitzenleute befürchten müssen, sofort verhaftet zu werden, sobald sie ihre Immunität einbüßen. In der Eduardo Cunha, der ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses, schon im Gefängnis sitzt. In der der Präsident und seine Leute nur deshalb nicht hinter Gittern sind, weil sie noch immer Immunität genießen und es keine unabhängige Justiz gibt. In Rio de Janeiro laufen Kinder auch deshalb mit Gewehren auf dem Rücken herum, weil der Ex-Gouverneur in Haft ist, der gegenwärtige Gouverneur sich lediglich ohnmächtig zeigt und ebenfalls aller möglichen Vergehen angeklagt ist, der Präsident der Gesetzgebenden Versammlung einsitzt und der gesamte Rechnungshof verhaftet ist. Und in diesem gesetzesfreien Raum macht sich die Eingreiftruppe breit, die wohl leugnen würde, dass es Räume gibt, die von der Militärpolizei besetzt sind, einer mit nahezu unbegrenzter Macht ausgestatteten Einheit, von der Marielle Franco vor ihrer Hinrichtung sagte, sie töte die Bevölkerung, vor allem die schwarze Bevölkerung der Favelas.

Langsam verspürt die Linke wieder ein wenig Lust zum Kämpfen, und eingeschlafene Humanisten wie ich erwachen, während die Anhänger des Reservisten und Hätschelkindes der Ultrarechten, Jair Bolsonaro, mit aller Macht verhindern, dass man den Tod von Marielle Franco beklagt. Seit die Kandidatur von Luís Inácio Lula da Silva verhindert wurde, liegt Bolsonaro in allen Umfragen vorne.

Die Linken spüren die Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Faschismus

Bolsonaro hatte lange Monate nach einer Gelegenheitspartei gesucht, bis er endlich die unbedeutende Trittbrettpartei PSL wählte - die neunte seiner Karriere. Er und seine Anhänger attackieren jeden, der seine Trauer über den Verlust von Marielle Franco öffentlich zeigt. Sie habe den Tod verdient, geerntet, was sie gesät habe, weil sie Banditen verteidigte, während sie in Wahrheit nur versuchte, die Menschenrechte zu verteidigen, die in Brasilien immer mehr in Gefahr sind.

Zugleich schließen Agrobusiness und ein Großteil der Unternehmerschaft immer explizitere Vereinbarungen zur Kandidatur Bolsonaros ab - jedenfalls war dies so vor dem Tod von Marielle Franco. Bolsonaro selbst wurde zu Hause von seinen Helfershelfern nahezu ans Bett gefesselt und dringlich ersucht, sich zur Hinrichtung Marielles nicht zu äußern. Und zwar weil alle wissen, was er sagen würde: dasselbe, was seine blutrünstigen Anhänger sagen: "Der Fehler der Diktatur war es zu foltern, statt zu töten." (Jair Bolsonaro, im Streitgespräch mit Demonstranten). "Pinochet hätte mehr Leute umbringen müssen." (Bolsonaro über die Diktatur in Chile.) "Die Militärpolizei hätte 1000 Häftlinge töten müssen, nicht bloß 111" (Bolsonaro über die Niederschlagung des Häftlingsaufstands 1992 in São Paulo, dem Carandiru-Massaker). "Ich wäre unfähig, einen homosexuellen Sohn zu lieben. Mir wäre lieber, dass mein Sohn bei einem Unfall stirbt, als dass er hier mit so einer bärtigen Schwuchtel herumläuft." (Jair Bolsonaro in einem Interview über Homosexualität mit dem Playboy).

Ein Großteil der herrschenden Klasse sowie ein Teil der evangelikalen Reaktion nehmen die Einladung von Bolsonaro zum Tanz an, indem sie die Aggressivität seiner Reden herunterspielen, wie es die Deutschen angesichts der faschistischen Verheißungen in der Weimarer Republik taten. Wir Brasilianer tanzen auf dem Vulkan, getrennt in Rechte und Linke, denn nur die Rechten bestehen darauf, dass es diese Einteilung in links und rechts nicht mehr gibt.

Probleme wie rassische, sexuelle und Gendervorurteile wurden ernsthaft erstmals in der Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso und, mehr noch, unter den Regierungen der PT debattiert. Und dies ist für das weiße Herrenhaus nicht hinnehmbar, das sich auch weiterhin mit Sklaven ohne Wohlfahrtsprogramm für arme Familien versorgen will. Es besteht kein Zweifel daran, dass es diese Art von Denken war, die zum Tod von Marielle Franco beitrug, denn dieselbe Denkweise tötet Marielle Franco täglich neu in den Kommentaren im Internet.

Die Umstände der Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Lula zeigen dasselbe Muster. Es gab klar verständliche, wenn auch zweideutige Empfehlungen von Seiten des Armeebefehlshabers, dass diese Verhaftung zu erfolgen und das Oberste Gericht die von Lula verlangte Haftprüfung abzulehnen hätte. In rekordverdächtigen 22 Minuten ordnete der auch bei vielen internationalen Juristen, darunter der ehemaligen deutschen Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, umstrittene Richter Sérgio Moro Lulas Verhaftung an und gab ihm 24 Stunden, um sich den Behörden zu stellen. Lula, dessen Wahlkampfkonvoi bei der Reise durchs Land einige Tage zuvor von Kugeln getroffen worden war - ein Verbrechen, das wie Marielles Tod bislang nicht aufgeklärt wurde -, verbrachte die Nacht im Gewerkschaftsgebäude in São Paulo und sagte dann, dass er auf das Angebot der Selbstauslieferung nicht eingehen wolle, jedoch bereit sei, von der Polizei abgeholt zu werden. Brasilien verkommt mehr und mehr zur sprichwörtlichen Bananenrepublik, die es der Korruption wegen schon immer war.

Seither reißt die gespannte Wachsamkeit derer, die Lula in Curitiba unterstützen, nicht ab. Die Linken, die seit der Hinrichtung Marielle Francos den Kampf wieder aufgenommen haben, befinden sich immer mehr im Kriegszustand, und die Humanisten, die, wie ich, erwacht sind, erst recht, denn sie spüren die Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Faschismus, der in den virtuellen Foren von den hasserfüllten Anhängern Bolsonaros und anderen weiterhin gepredigt wird.

Marcelo Backes, 1973 in Campina das Missões, Brasilien, geboren, lebt als Autor und Übersetzer in Rio de Janeiro. Deutsch von Markus Sahr

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SZ vom 14.04.2018/doer
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