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Serie "Welt im Fieber": Brasilien:Mehr als ein exotisches, weit entferntes Land

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Brasilien steht am Rande eines Bürgerkrieges, aber demonstrieren ist in diesen Zeiten lebensgefährlich. Wo ist das Mitgefühl der internationalen Beobachter? Ein Hilferuf.

Gastbeitrag von Katherine Funke

Ich möchte diese Zeilen für einen Hilferuf nutzen. Brasilien beklagt bereits mehr Tote durch Covid-19 als Italien. Bislang, doch nun sollen diese Zahlen schöngeschrieben werden. Trotzdem werden sie in die Geschichte eingehen. Das Gesundheitsministerium (https://covid.saude.gov.br) informiert nicht mehr über den Verlauf der Epidemie. Die bisher verfügbaren Zahlen erfahren eine Bearbeitung, initiiert durch die Bundesregierung. Denn die beschuldigt die Gouverneure und Präfekten, die Daten aufgeblasen zu haben.

Wenn man aber verfolgt, was Experten wie der Mikrobiologe Átila Iamarino sagen, weiß man, dass das Gegenteil passiert. Aufgrund mangelnder Tests korrespondieren vielerorts die Zahlen der Toten und Infizierten nicht mit der Realität. Wie etwa in Rio de Janeiro. Wir wissen auch, dass in Brasilien die Zahl der Neuinfektionen jeden Tag um etwa 30 000 bestätigte Fälle ansteigt. Der brasilianische Umgang mit der Krise wird scharf kritisiert, sogar - wer hätte das gedacht - von Donald Trump. Unser Präsident hat nun, statt sein Verhalten zu ändern, ebenfalls angedroht, die WHO zu verlassen. Wir stehen unter größter Anspannung, denn wir wissen nicht, ob wir morgen unter einem Militärregime aufwachen. Denn wir befinden uns nicht nur im Epizentrum der Corona-Pandemie, wir stehen auch am Rande eines Bürgerkriegs. Als Vorwand dafür nimmt die nationale Regierung eine angebliche terroristische Bedrohung durch antifaschistische Organisationen.

Diese Situation verschärft die Krise durch Covid-19 zusätzlich. Jetzt ist nicht die Zeit, um auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Unter meinen Freunden habe ich letzten Samstag eine Aufnahme geteilt. Darauf singe ich das Mantra "OM" und spreche dann die Nachricht: "Bleib zuhause". Doch ich habe Leute getroffen, die bereit sind, auf die Straße zu gehen und vielleicht ihr Leben zu verlieren. Ich bin mir der Sterblichkeit sehr bewusst, seitdem ich sieben Jahre alt war. Damals sah ich meinen Vater bei seinem letzten Atemzug. Vielleicht macht mich diese Erfahrung skeptisch, ob man in diesem Moment auf der Straße etwas bewegen kann.

Ich komme zum Schluss und danke den Lesern, die mir freundliche Worte geschrieben haben

Denn es lohnt sich nicht, den Tod zu beschleunigen, auch wenn ich die Revolte verstehe und das, was in den USA als Reaktion auf den Tod von George Floyd passiert, uns Kraft gibt. Es fehlt uns nicht an brasilianischen Beispielen für Rassismus, durch den Unschuldige sterben, wie vergangene Woche ein fünfjähriger Junge aus Recife im Bundesstaat Pernambucco. Und die ganze Zeit stehen wir unter der Herrschaft dieser Covidiotie, die uns zurückkehren lässt zur normalen Aktivität, ohne die Ansteckungsrate zu kontrollieren.

Dass Brasilien, das nicht stillstehen darf, das nicht stillstand, nicht weiß, wo es enden wird, ist traurig, hässlich, unmenschlich. Mir stockt der Atem und ich möchte mit diesem Text einen Hilferuf in die Welt senden. Wir brauchen die Liebe, das volle Mitgefühl der internationalen Beobachter für das, was hier passiert. Liebe sage ich. Nicht Gelächter. Nehmt uns nicht nur als dieses exotische, weit entfernte Land, das euch mit seiner irrsinnigen Komik einen Moment der Erleichterung verschafft. Wir sind ein Land von kontinentaler Größe, mit riesiger Biodiversität und einer ebenso reichen Kultur. Aber wir sind erschüttert von einer Geschichte der Ungleichheit und fehlender Perspektiven.

Ich komme zum Schluss dieses letzten Artikels der Serie "Welt im Fieber" und danke den Lesern, die mir freundliche Worte geschrieben haben. Eine Zuschrift hat mich mit Gelassenheit erfüllt. Sie enthielt das Zitat: "In der Ruhe liegt die Kraft". Ich werde mich von dieser Seite des Globus aus daran erinnern. Soweit das möglich ist, werde ich im Haus bleiben. Ich setze darauf, dass wir statt der zahlreichen Covidiotien die Chance für eine "Diskussionsorgie" bekommen, wie Angela Merkel das in Deutschland genannt hat. Wenn auch eine solche Orgie anstrengend ist, so wäre es eben doch eine Orgie und kein Begräbnis.

Katherine Funke , geboren 1981, ist brasilianische Schriftstellerin und Gründerin des Verlags Micronotas. Aus dem Portugiesischen von Michaela Metz.

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SZ vom 08.06.2020
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