Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Geschichte in Flammen

Das wichtigste Natur- und Ethnologiemuseum Lateinamerikas stand bislang in Rio. Am Sonntag ist es bis auf die Grundmauern abgebrannt.

Von Boris Herrmann

Ein Stück Brasilien ist tot. Zwei Jahrhunderte Geschichte, Kulturerbe, Erinnerung dieses Landes, alles verbrannt in wenigen Stunden. Die Bilder, die am Montagmorgen im brasilianischen Frühstücksfernsehen über alle Sender liefen, ließen keinen Zweifel daran: Man muss fortan vom ehemaligen Nationalmuseum sprechen. Von dem Gebäude in Rio de Janeiros Stadtpark Quinta da Boa Vista, unweit des Zoos und des Maracanã-Stadions, stehen nur noch die Gemäuer. Es ist ein Symbol für den Zustand dieser Stadt, und ein Verlust, der weit über Rio und Brasilien hinausreicht.

Das vor exakt 200 Jahren eröffnete Natur- und Ethnologiemuseum war das größte seiner Art in ganz Lateinamerika. Eine Schatzgrube der Forschung und der Wissenschaft. Ein Archiv mit 20 Millionen Exponaten, von denen nur rund ein Prozent öffentlich ausgestellt wurden. Das Haus beherbergte eine geologische, botanische, paläontologische und archäologische Sammlung. Zu seinen bedeutendsten Stücken gehörten die Knochen von Luzia, einem der ältesten menschlichen Fossile, das jemals auf dem amerikanischen Kontinent gefunden wurde. Luzias Alter wurde auf 11 500 bis 13 000 Jahre geschätzt. Seit ihrer Entdeckung 1975 geht die Anthropologie davon aus, dass die sogenannte Neue Welt deutlich älter ist, als lange angenommen wurde. Zu den Attraktionen des Nationalmuseums zählten außerdem einige der ältesten Dinosaurierfossilien des Kontinents, darunter das einzige bekannte Skelett eines Maxakalisaurus. Man könnte diese Liste lange fortführen, von der wichtigsten Sammlung indigener Kunst und Kultur Brasiliens, über die größten anthropologische Bibliothek des Landes bis hin zu ägyptischen Mumien, griechischen Statuen und etruskischen Artefakten. Auch der 5,3 Tonnen schwere Bendego, Brasiliens größter Meteorit, wurde hier ausgestellt. Zumindest der widerstand den Flammen, wie die Museumsverwaltung am Montag mitteilte. Ob auch ein kleiner Teil der anderen Kostbarkeiten gerettet werden können, war zunächst noch nicht absehbar.

Das Feuer war am Sonntag gegen 19.30 Uhr aus bislang ungeklärten Gründen ausgebrochen. Zu dieser Zeit war das Museum bereits geschlossen. Wenig später brannte das dreistöckige Gebäude lichterloh. Verletzt wurde offenbar niemand. Die Feuerwehr bekam den Brand erst gegen zwei Uhr morgens unter Kontrolle. Laut dem Feuerwehrkommandanten Roberto Robadey lag das vor allem daran, dass zu wenig Löschwasser verfügbar war. Zwei umliegende Hydranten seien leer gewesen. Seine Einsatzkräfte hätten deshalb auf die Ankunft von Wassertankwagen warten müssen. "Dadurch haben wir 30 bis 40 Minuten verloren", teilte Robadey mit.

Staatspräsident Michel Temer bezeichnete den Verlust der Museumssammlung als "unermesslich". In einer Mitteilung Temers hieß es: "Heute ist ein tragischer Tag für alle Brasilianer. 200 Jahre Arbeit, Forschung und Wissen sind verloren." Gleichzeitig begann die Suche nach den Schuldigen, und dabei richteten sich die Vorwürfe von Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Medien ziemlich schnell gegen die Politik. Zahlreiche Beobachter sprachen von einer "angekündigten Tragödie".

Brasilien hat sich zu den Olympischen Spielen 2016 das futuristische "Museu do Amanhã" (Museum von Morgen) in der herausgeputzten Hafengegend Rios geleistet. Aber um seine Museen von Gestern kümmert sich kaum noch jemand. Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist chronisch pleite, die Regierung verhängte den Finanznotstand. Gespart wird vor allem bei der Bildung, der öffentlichen Gesundheitsversorgung und der Kulturförderung. Das Nationalmuseum erhielt in den zurückliegenden drei Jahren nur 60 Prozent seines ursprünglich zugesicherten Budgets zur Instandhaltung des Hauses. Mehrere Ausstellungsräume befanden sich in beklagenswertem Zustand und waren nicht mehr öffentlich zugänglich. Anfang des Jahres war das Museum zehn Tage lang geschlossen, die Putzkräfte streikten wegen ausbleibender Löhne. Von wirksamen Brandschutzmaßnahmen konnte offenbar keine Rede sein.

Und alles, weil kein Löschwasser da war. Eine Zeitung schreibt vom "Selbstmord eines Landes".

Museumsdirektor Paulo Knauss de Mendoça sagte, die Zerstörung dieses Kulturschatzes sei das Ergebnis "jahrelanger Vernachlässigung des historischen Erbes unseres Landes". Sein Stellvertreter Luiz Fernando Dias Duarte erinnerte, dass am Sonntagnacht auch die Lebenswerke von rund 90 Wissenschaftlern in Flammen aufgegangen seien, die im historischen Archiv des Museums geforscht hätten. Er sei "zutiefst entmutigt" und "enorm wütend", so Dias Duarte. Vor der rauchenden Asche der Ruine standen am Montagmorgen entsetzte Mitarbeiter, Forscher, Akademiker, Studierende und Anwohner - viele mit verheulten Augen.

In die Tränen mischte sich Wut, später versuchten Demonstranten auf das Gelände zu gelangen, es gab Zusammenstöße mit Sicherheitskräften.

Auch das Gebäude selbst war von großer historischer Bedeutung. Bevor es 1818 von König João VI. zum ersten Museum des Kolonialreiches umgewandelt wurde, wohnte hier die portugiesische Königs- und spätere brasilianische Kaiserfamilie. In dem Palast wurde auch die Kronprinzessin Isabella geboren. Nun ist all das für immer verloren, unter anderem weil kein Löschwasser da war. Das können selbst die katastrophenerfahren Cariocas kaum fassen. Rios größte Zeitung O Globo verkündete den "Selbstmord eines Landes". Und der Historiker Washington Fajardo formulierte in einem Nachruf auf das Museum den frommen Wunsch: "Ich hoffe, dass die zukünftigen Generationen uns das verzeihen."

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SZ vom 04.09.2018
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