Brasilianischer Superstar:"Auf geht's, du Luder"

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Wohnt in Rio de Janeiro mit Mann, Mama und fünf Hunden zusammen: Larissa de Macedo. (Foto: YouTube)

Anitta, der größte Popstar Brasiliens, spaltet das Land: Ihre Fans sehen sie als einzige Feministin, die die Massen begeistert. Andere behaupten, ihre Natürlichkeit sei nur Retusche. Zu Besuch in ihrer Villa in Rio.

Von Boris Herrmann

Man kann lange klingeln an der Haustür von Larissa de Macedo, es macht keiner auf. Irgendwann guckt am Garagentor ein Mann um die Ecke, wohl der Hausmeister, er sagt: "Einfach reingehen, die Tür ist offen." Tatsächlich. Im Wohnzimmer reagiert niemand auf die Frage: "Hallo, jemand da?" Die Hausherrin ist noch oben, der Hausmeister wieder verschwunden. Irgendwo bellt ein Hund. Im Garten dieser milchfarbenen Villa befindet sich eine Badelandschaft, die aussieht wie aus dem Tui-Katalog, die Sofa-Ecke erinnert eher an ein Hardrock-Café. An den Wänden hängen in Gold gerahmte Bilder von Hendrix, den Stones und Homer Simpson, daneben ein Route-66-Schild. So also wohnt der derzeit größte Popstar Brasiliens.

Weltweit bekannt ist Larissa de Macedo, 24, unter ihrem Künstlernamen Anitta. Und wenn hier von der Welt die Rede ist, dann ist vor allem die Netzwelt gemeint. Die Videos ihrer fünf größten Hits wurden in den zurückliegenden Monaten weit über eine Milliarde Mal bei Youtube angesehen. Bei Twitter folgen ihr fast sieben Millionen Menschen, Facebook 14 Millionen, Instagram 27 Millionen. Beim Streamingdienst Spotify hat sie es erstmals mit einem portugiesischsprachigen Lied unter die 20 meistgehörten Songs geschafft. Laut Billboard gehörte sie zuletzt zu den zehn einflussreichsten Künstlern in sozialen Netzwerken, noch vor Lady Gaga, Eminem oder Beyoncé. Wer ist diese junge Brasilianerin, die jetzt mit einem schneeweißen Schoßhündchen auf dem Arm die Marmortreppe herabgehüpft kommt?

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Sie lässt im Video Rapper auf ihrem Po Bongo spielen und sagt: "Meine Schule war die Kirche."

Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass es sich um dieselbe Frau handelt, die sich in dem Video-Clip "Vai Malandra" (etwa: Auf geht's, du Luder) auf den Dächern von Rios Favela Vidigal rekelt, so leicht bekleidet, dass es kaum der Rede wert ist, und die dabei eine Bande von Gangster-Rappern auf ihrem eingeölten Hintern wie auf Bongos trommeln lässt. Anitta lebt mit ihrem Ehemann, ihrer Mutter und fünf Hunden in einem weiträumig abgesperrten Luxusvillenkomplex im spießigen Vorort Barra da Tijuca. Dort hat sie sich es jetzt zwischen einem Elvis- und einem Freddie-Mercury-Kissen auf ihrer Couch bequem gemacht, wobei sie ihr Hündchen Serafim im Stile des 007-Bösewichts Blofeld krault. Sie trägt an diesem Tag ein weites Gucci-T-Shirt und einen ausgefransten Jeansrock. Sie sagt: "Meine Schule war die Kirche."

Im Chor der katholischen Gemeinde Santa Luzia in Rio de Janeiros verarmten Arbeiterviertel Honório Gurgel hatte sie in den frühen Nullerjahren angefangen, öffentlich zu singen. Und bis heute ist sie der Meinung: "Ich habe nie etwas herausgebracht, was gegen die Ideen der Kirche wäre. In meinen Liedern geht es um Respekt, Nächstenliebe und die Selbstbestimmung der Frauen." Na ja. "Natürlich immer auf unterhaltsame Weise", ergänzt Anitta. "Jugendliche wollen ja keine Predigten hören. Sie wollen sich amüsieren."

Wenn es um Amüsement geht, macht ihr weit und breit jedenfalls keiner etwas vor. Das Ende 2017 im Netz veröffentlichte "Vai Malandra" hat aus einem brasilianischen Superstar praktisch über Nacht ein internationales Phänomen gemacht. Und das liegt sicherlich nicht nur an seinem grandiosen Rhythmus, diesem scheppernden Baile-Funk, einer ureigenen Erfindung aus den Favelas von Rio. Es liegt natürlich auch an der Bildsprache des amerikanischen Hipster-Porn-Fotografen Terry Richardson, der dieses Video gedreht hat. Voyeure und Sittenwächter kommen hier gleichermaßen auf ihre Kosten. Das Lied dominiert nicht nur seit Wochen die brasilianischen Charts, sondern auch die hiesige Version der "Me Too"-Debatte. Laut der Anti-Anitta-Front transportieren diese Bilden plumpen Sexismus - und das auch noch unter der Regie eines Mannes wie Richardson, der wegen Missbrauchsvorwürfen von führenden Modemagazinen boykottiert wird. Es gibt aber auch allerlei Popkritikerinnen und Kulturanthropologinnen, die für eine emanzipatorische Lesart von "Vai Malandra" eintreten. Demnach handelt das Lied von einer modernen, selbstbewussten Frau, die eine Horde Vorzeigemachos nach ihrer Pfeife tanzen lässt. Für die einen ist Anitta damit endgültig zur Pop-Schlampe der Nation aufgestiegen, andere preisen sie als die einzige Feministin, die es schafft, die Massen zu begeistern.

Sie selbst verfolgt den aufgeregten Diskus recht vergnügt. Er hat ihr deutlich mehr geholfen als geschadet. Aufmerksamkeit ist alles im Popgeschäft, zumal im digitalen Zeitalter. Und Larissa, das Mädchen aus armen Verhältnissen, hat früh verstanden, was am besten funktioniert: Wenn sie zu jeder Single gleich noch ein Streitthema mitliefert.

Serafim trottet jetzt davon. Dafür hüpft der nächste Hund zum Kraulen aufs Sofa, "das ist Tobias", sagt Anitta. Fünf Minuten später lässt sich Tobias dann von Olav ablösen. Es wirkt wie eine lange einstudierte Choreografie, wie überhaupt alles in der Karriere dieser Musikerin einem festen Plan zu folgen scheint. In ihrem Heimatland sorgt sie seit Jahren für Furore, als die Frau, die den verruchten Funk der Hügel in den Mainstream holte. Einem großen internationalen Publikum präsentierte sie sich erstmals bei der olympischen Eröffnungsfeier von Rio, als sie mit den Tropicalismo-Helden Caetano Veloso und Gilberto Gil auf die Bühne kam. 2017 lancierte sie dann unter dem Titel "Checkmate" eine Serie von "strategischen Veröffentlichungen", vier Singles im Abstand von je einem Monat, die alle ein anderes Genre bedienen. Sie hat dafür Englisch und Spanisch gelernt, weil sie merkte, dass ihre Muttersprache ihrem Karriereplan im Weg steht. Es geht ihr jetzt um den lateinamerikanischen Markt und vor allem den der Latinos in den USA. Dem Bossa-Nova-geprägten "Will I See You?" folgte die Disco-Nummer "Is that for Me?", bevor sie im Duett mit dem kolumbianischen Reggeaton-Star J Balvin das spanische "Downtown" herausbrachte und damit endgültig den Kontinent eroberte. Fast alles, was sie zuletzt angepackte, ist so erfolgreich wie umstritten.

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Anitta wird vorgeworfen, sie sei ein Marketingprodukt, bei dem die Musik letztlich keine Rolle mehr spiele. Sie lächelt, wenn sie das hört: "Ich habe alles selbst erschaffen. Ich habe meine Firma, meine Angestellten, ich mache mein Marketing. Wenn jemand behauptet, mein Business gründe auf cleverer Vermarktung, sehe ich das als Kompliment."

Zu dieser Vermarktung gehören vermutlich auch die ersten Sekunden des "Vai Malandra"-Videos. Man sieht dort die Cellulite an ihren Oberschenkeln in Großaufnahme. "Ich habe mich entschieden, mich mit all meinen Macken zu zeigen." Auch das ist angeblich eine dieser christlich geprägten Botschaften an ihre jugendlichen Followerinnen: "Seid glücklich, so wie ihr seid!" Ihr Beitrag zur Feminismusdebatte. Nun hat diese Botschafterin mit ihren 24 Jahren aber bereits ein halbes Dutzend Schönheitsoperationen hinter sich und der Verdacht liegt nahe, dass sie vor allem dann mit ihren sogenannten Schwächen kokettiert, wenn es gerade in die Debatte passt. In solchen Hochglanzvideos wird üblicherweise alles wegretuschiert, was stört. Anitta trauen viele Kritiker zu, dass sie sich nachträglich eine Natürlichkeit hinretuschieren ließ, die es an ihrem echten Köper gar nicht mehr gibt. Sie bestreitet, dass es so ablief. Aber die Idee an sich findet sie gar nicht so verwerflich.

© SZ vom 26.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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