Brandbrief:Die Freiheit älterer Männer

"Fatale Irrtümer" - "unglaubliche Schlampereien": Der scheidende ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann rechnet mit dem Programm ab.

Hans-Jürgen Jakobs

Am Abend von Bundestagswahlen trat er gern prominent im Fernsehen auf. Dann diskutierte Hartmann von der Tann, 62, mit Spitzenpolitikern. Als Ko-Moderator der wöchentlichen Phoenix-Talkshow Unter den Linden hat er dagegen ein kleineres Publikum.

Brandbrief: Hartmut von der Tann: späte Erkenntnis

Hartmut von der Tann: späte Erkenntnis

(Foto: Foto: dpa)

In der Hauptsache aber ist der Mann mit der Ausstrahlung eines britischen Pferdefreundes Politikkoordinator und Chefredakteur der ARD. In dieser Funktion - wenige Monate, bevor er das Amt an den ARD-Hauptstadtvizechef Thomas Baumann übergibt - hat von der Tann jetzt noch einmal in einem Brandbrief an die Chefredakteure und Kulturchefs der ARD-Sender Alarm geschlagen.

Ihn kümmert die triste Lage bei Dokumentationen, Features und Reportagen - einem Kerngebiet des informationsorientierten Ersten Programms. "Dem Programm würde es deutlich mehr nützen, wenn - manchmal teure - Qualität vor Quantität ginge", schreibt von der Tann.

Seine Tonart: Moll. Sein Tempo: Allegro. Seine Motivation: späte Erkenntnis.

Am Montagabend um 21 Uhr beispielsweise sei die Akzeptanz der Dokumentationen trotz Sendeplatz-Änderungen "rückläufig". Das liege, so von der Tann, nicht nur an der starken Konkurrenz von RTL (Wer wird Millionär), am "meist sehr populären Fernsehfilm des ZDF" und der eigenen schwachen zuvor ausgestrahlten ARD-Serie.

"Weniger Serien"

Vielmehr plädiert der ARD-Chefredakteur angesichts der Programmstrukturen nun bei den Montags-Dokumentationen für "deutlich weniger Serien", da sie "nur noch in Verbindung mit Sonderprogrammen (Weihnachten, Ostern) auf den Sender zu bringen sind".

Überdies zeigten verschiedene aktuelle Beispiele, dass es sehr "schmerzlich" sei, über viele Wochen an einer Reihe und Serie festhalten zu müssen, deren "erster oder zweiter Teil schon deutlich macht, dass sie ein Misserfolg werden wird".

Generell habe er den Eindruck, "dass zur Erzielung möglichst andauernder Präsenz eines bestimmten Senders Themen notfalls auch ein bisschen künstlich auf möglichst viele Folgen gestreckt werden". Das mache die Produktion preiswerter.

Der Brandbrief gibt einen tiefen Einblick in das ewige Provisorium ARD, eine Arbeitsgemeinschaft, in der neun einzelne Sender ein Programm zusammenstückeln. Obwohl er vielfach um Zurückhaltung gebeten habe, so von der Tann, schiebe die ARD noch einen "Berg" von angemeldeten Dokumentationen vor sich her, ja, es würden auf jeder Konferenz neue angemeldet.

Ein Einblick in die dafür vorgesehenen Finanzmittel sei zwar nicht möglich, es liege aber der Verdacht nahe, "dass diese Filme mehrheitlich eher unterfinanziert sind". Die Schlussfolgerung des noch amtierenden Chefredakteurs: "Wir werden so lange nicht erfolgreich sein, wie wir senden, was die Häuser liefern, anstatt herzustellen, was der Sendeplatz verlangt."

Und er bekennt, dass der Konferenz der Chefredakteure "und sogar dem Koordinator gelegentlich fatale und zumindest in der Rückschau vermeidbare Irrtümer unterlaufen" seien.

Das klingt fast so wie früher die Selbstbezichtigung kommunistischer Führung in Ostberlin oder Moskau, wenn sie den Fünfjahresplan eklatant verfehlt haben. Die Lösung von der Tanns für den Krisenmontag ist, das Profil des Sendeplatzes klarer zu definieren, mehr Einzelstücke zu senden und eine kleine Redaktionsgruppe einzurichten, "die den Sendeplatz verantwortlich bespielt".

Zwei der dreiköpfigen neuen Gruppe sollten aus großen Anstalten kommen. Das Trio sollte auch die Einhaltung der Termine kontrollieren sowie PR-Maßnahmen koordinieren. Erst jüngst sei der erste Teil einer Reihe "mit Mühe" bis zur Pressekonferenz fertig geworden, "die Teile mussten deswegen nach den Daten ihrer Fertigstellung und nicht nach inhaltlichen Überlegungen programmiert werden", so von der Tann.

Im Klartext: Gesendet wurde, was fertig war, nicht was Sinn machte. "Solche unglaublichen und verantwortungslosen Schlampereien sollten dann nicht mehr vorkommen können", hofft der ARD-Mann.

Aber auch für den zweiten ARD-Dokumentationstermin am Mittwoch macht von der Tann radikal Inventur. Der Reportagetermin um 21.45 Uhr leide Not.

"Stillstand, wenn nicht Rückschritt"

"Hier ist mit Ausnahme der Bemühung dreier Sender, eine Presenter-Reportage zu entwickeln, Stillstand, wenn nicht Rückschritt zu beobachten, und das sehen offenbar auch die Zuschauer so."

Es scheine, so von der Tann, "als würden viele Sender die Reportage wie ein illegitimes Kind der Doku-Branche behandeln und entsprechend alimentieren". Frischer Wind sei dringend notwendig.

Für den späteren Mittwochtermin - 22.45 oder 23.15 Uhr - schlägt er vor, halbaktuelle, soziale Themen (wie Globalisierung: Hat die Politik noch das Sagen? oder Gesellschaft ohne Kinder) zu bringen: Es werde nötig sein, neben der Dokumentation das "auch von mir lange Zeit verpönte" gute alte Feature wiederzubeleben.

Mehr Reportagen, wieder Features, bessere Planung, mehr Qualität - der ARD-Verantwortliche lässt in seiner Philippika nichts aus. Auf der nächsten Konferenz der Chefredakteure und Kulturchefs am 13. und 14. März in Frankfurt am Main sollen Änderungen festgezurrt werden.

Die Lage ist offenbar so schlimm, dass von der Tann an die berühmte Aufrüttelrede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog erinnert. "Wenn ich an einigen Stellen offener bin als früher", schreibt er nun, "dann sicher deshalb, weil alte Männer nichts mehr zu verlieren haben, und weil ich wirklich glaube, dass wir uns unbedingt einen mindestens Herzogschen Ruck geben müssen." Das System wird es - ruck, zuck - zu verarbeiten wissen.

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