"Boyhood" im Kino:Besser als jedes Familienalbum

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Ellar Coltrane in "Boyhood" (Foto: dpa)

Zwölf Jahre hat Richard Linklater an seinem Film "Boyhood" gearbeitet, jedes Jahr seine Schauspieler wieder zusammengetrommelt, um der Zeit auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis ist ein Film von außerordentlicher Schönheit.

Von Tobias Kniebe

Am Ende hat man jedes Gefühl für die Zeit verloren. Sind da gerade zwölf Jahre vergangen, ein echtes Stück Leben? Oder doch nur zwei Stunden und 44 Minuten, wie die offizielle Laufzeit des Films suggeriert? Richard Linklaters "Boyhood" ist ein Werk, das viele Gewissheiten infrage stellt - die Behauptung zum Beispiel, Kamera und Schnitt könnten die Zeit nach Belieben manipulieren, gerade das Kino müsse auf ihr reales Vergehen keine Rücksicht nehmen. Dieser Film gibt eine subtile neue Antwort darauf, die direkt ins Langzeitgedächtnis einsinkt. Man kommt aus der Vorführung und kennt jemanden, seit vielen Jahren schon, man blickt zurück und fragt: Weißt du noch?

Weißt du noch, wie du mit Coldplay zu den Sternen geschaut hast, als Coldplay noch neu und ganz unpeinlich waren? Sieben Jahre musst du alt gewesen sein, und die Lehrerin hat dich geschimpft, weil du deinen Bleistiftspitzer zerstört hast, aber es war keine Absicht, du wolltest nur einen Stein anspitzen und eine Pfeilspitze herstellen, genau wie die Menschen in der Steinzeit. Vor dem alten Wohnmobil hast du Unterwäschekataloge gewälzt und gekichert mit deinem besten Freund, und deine Schwester hat dich mit ihren Britney-Spears-Tänzen gequält und aus voller Kehle gesungen, "I'm not that innocent". Das war sie auch nicht, weiß Gott.

Eine Familiengeschichte in Texas, eine Geschichte des Heranwachsens. Im Mittelpunkt steht Mason, der am Anfang Erstklässler ist, dazu seine Schwester, seine Mutter und sein oft abwesender Vater. Am Ende ist der Junge von zu Hause ausgezogen und kommt im College an. Zwölf Jahre sieht man vergehen - und zwölf Jahre hat Richard Linklater auch an diesem Film gearbeitet, von 2002 bis 2013. Jedes Jahr wurden ein paar Szenen mit Mason und seiner Familie gefilmt, wenige Tage nur. Was aber ausreichend war, um die ganze reale Arbeit des Wachsens und Pubertierens und Lernens und Ausprobierens einzufangen, die in der Zwischenzeit stattgefunden hatte. Und das Grauwerden und Dickwerden und dann wieder Dünnerwerden der Eltern, ihre verlorenen Illusionen, ihr Zugewinn an Souveränität.

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Was man nun beim Zuschauen erlebt, lässt sich am ehesten mit der Wahrnehmung von Verwandten vergleichen, die man nur einmal im Jahr wirklich sieht. Manchmal scheinen sie sich kaum verändert zu haben, aber in anderen Jahren ist das Wiedersehen fast ein Schock, gerade bei den Kindern, mit so viel Wucht und Pathos hat das Leben ihre Körper und ihre Stimmen und ihre Persönlichkeit geformt. Dabei einfach nur Zeuge zu werden, gehört zu den eigentlichen Wundern des Menschseins - das macht dieser Film noch einmal bestechend klar.

Weißt du noch? Wie Dad nach Jahren aus Alaska zurückkam und so tat, als sei er nie weggewesen? Damals hat er dich und deine Schwester in seinen Pontiac GTO gepackt, gleich ging das Gequengel los, wer vorn sitzen durfte, ihr seid zum Bowling gefahren, und du hattest bald keine Lust mehr, weil es ohne die Bumper, Schranken an der Seite für Kinder, so schwierig war, und Dad sagte, im Leben gibt es auch keine Bumper, reiß dich zusammen. Als Mom schließlich heimkam, fragte sie zuerst nach den Hausaufgaben, und dann ging der Streit mit Dad gleich wieder los, als ob er wirklich nie weggewesen wäre. Und so hat er doch nicht bei uns übernachtet.

Natürlich gibt es längst Filmer, die versucht haben, die Arbeit der Zeit an den Körpern, Gesichtern und Träumen einzufangen. "Die Kinder von Golzow" fallen einem ein, das Mammutprojekt von Barbara und Winfried Junge, das von der DDR des Jahres 1961 über den Mauerfall bis zum Jahr 2007 reicht. Michael Apted hat in England ähnliches mit der Dokuserie "Up" gemacht, und François Truffaut hat seine Figur Antoine Doinel, gespielt von Jean-Pierre Léaud, über zwanzig Jahre und viereinhalb Spielfilme begleitet. Linklaters konsequente jährliche Bestandsaufnahme, in eine einzige fiktionale Erzählung gepackt, ist aber doch bisher einmalig.

Und man versteht auch, warum, wenn man sich die Risiken klarmacht: Als der siebenjährige Ellar Coltrane zum Hauptdarsteller dieses Experiments auserkoren wurde, wusste niemand, was die Zukunft für ihn bereithielt: Würde er schmerzhaft schüchtern werden, monströs dick, früh kriminell? Würden seine Eltern nach China ziehen oder absurde Geldforderungen stellen? Nichts dergleichen ist geschehen, im Gegenteil - die unangestrengte und doch fast magnetische Präsenz, die Ellar etwa ab dem 15. Lebensjahr entwickelt, wirkt wie ein herrliches, unverdientes Geschenk für die Filmemacher. Und selbst Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs, die im Film Masons ältere Schwester spielt, konnte ihre zwischenzeitliche Unlust überwinden. Als der Vater ihr die Bitte verweigerte, ihre Figur im Teenageralter sterben zu lassen, blieb sie notgedrungen dabei. Das Dokument ihres Heranwachsens, das dabei entstand, das dieses Jahr schließlich auf dem Sundance Festival vorgestellt wurde und dann auf der Berlinale, ist nun besser als jedes Familienalbum.

Weißt du noch? Es muss Herbst 2008 gewesen sein, als du dreizehn warst, bevor deine Schwester rote Haare hatte. Barack Obama musste gewinnen, Dad war es bitter ernst damit, von Haus zu Haus seid ihr mit ihm gezogen, Wahlkampf machen. Und dem Idioten, der euch dabei bedroht hat, habt ihr aus Rache das McCain-Schild geklaut. Und dieser Campingtrip, war das im selben Jahr? "Pineapple Express" war der Film des Sommers, ganz klar, und gemeinsam seid ihr zu dem Schluss gekommen, dass es Unsinn wäre, "Star Wars" jemals fortzusetzen. Denn was, bitte schön, könnte nach der Rückkehr der Jedi-Ritter noch passieren? Eben.

Welche Erinnerungen bleiben zurück, welche verblassen? Wie Linklater sich diesem Rätsel annähert, das ist wirklich berückend schön. Denn natürlich kann man die Geschichte auch ganz nüchtern erzählen. Ein Scheidungskind wächst heran, wie die Hälfte aller Kinder in den USA, der Vater (Linklater-Buddy Ethan Hawke) taucht nur gelegentlich auf und lässt meistens offen, ob er gerade einen Job hat. Die Mutter (Patricia Arquette) geht wieder aufs College, wird Lehrerin, erkämpft sich ein eigenes Leben. Nur ihre Männer haben die Tendenz, sich mit der Zeit in betrunkene Idioten zu verwandeln, einer wird sogar gewalttätig - und die überstürzte Flucht, die dadurch nötig wird, die ist dann auch schon der dramatischste Moment des ganzen Films. Soll das nun eine Erkenntnis sein, über den amerikanischen Mann, den modernen Mann überhaupt, und seine Schwäche? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Denn am Ende sind es gerade nicht diese großen Dinge, die sich unauslöschlich einprägen. Scheinbar unbedeutende Sachen sind es, kleine Gespräche, seltsame Momente, Alltagsszenen.

Die Hauptrolle spielt die Zeit selbst

Weißt du noch? In der elften Klasse, als du dich gerade von Facebook abgemeldet hattest und dir alle Menschen wie Roboter erschienen? Dieser Trip nach Austin im Auto, nur du und Sheena, die vielleicht doch zu hübsch war für eine erste richtige Freundin? Die Stadt war erleuchtet, Freigeister überall, feelin' groovy, selbst um drei Uhr nachts tobte das Leben, und dann standet ihr ganz oben auf dem leeren Parkhaus, und die Sonne ging auf, und später im Wohnheim der Schwester, die euch den Schlüssel überlassen hatte, oh Gott - wie ihre Zimmergenossin viel zu früh aus dem Wochenende zurückkam! Mann, das war peinlich.

Die Stars in diesem Film, das wird gegen Ende hin immer klarer, sind nicht Mason und die Mitglieder seiner Familie. Die Hauptrolle spielt die Zeit selbst. Sie verleiht diesen Szenen, die für sich genommen nichts Besonderes sind, die gar nicht herausragen wollen aus dem ewigen Fluss des Lebens, in der Summe eine magische Qualität. Das Kino kann die Zeit natürlich festhalten und abbilden, 24 Mal pro Sekunde sogar. Doch ihre wahre, stetig höhlende, meißelnde, formende Kraft - die wirkt meist zu langsam und zu gewaltig, um wirklich festgehalten zu werden. Das gelingt dann schon eher der großen Literatur. Erinnert der Filmtitel nur zufällig an Tolstoi und seine "Knabenjahre"? Wie aus der süßen Stupsnase des siebenjährigen Ellar Coltrane die verwegene Stupsnase eines unabhängigen jungen Mannes wird, wie seine Backen ihren Babyspeck verlieren und ein Weltwissen in seinen Augen aufblitzt, das seinen Jahren voraus zu sein scheint - da spürt man jedenfalls eine Macht am Werk, die bisher noch kaum jemand abbilden konnte.

Weißt du noch? Wie du im Wohnheim ankamst, und dein Zimmergenosse stellte sich als verrückter Rotschopf heraus, der super war und auch Gras hatte, und kaum waren die Sachen aufs Bett geworfen, standen schon diese beiden Mädchen in der Tür, und dann seid ihr einfach losgezogen in die Wüste, und es lagen Küsse in der Luft und Magie und das ganze Leben lag vor euch? Na klar. War ja erst gestern.

Boyhood , USA 2014 - Regie und Buch: Richard Linklater. Kamera: Lee Daniel, Shane Kelly. Schnitt: Sandra Adair. Mit Ethan Hawke, Patricia Arquette, Ellar Coltrane, Lorelei Linklater. Universal, 164 Min.

© SZ vom 04.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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