Boulam Sansal:Invasoren und Käfer

Boulam Sansal: Boualem Sansal: Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf 2019. 255 Seiten, 24 Euro.

Boualem Sansal: Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf 2019. 255 Seiten, 24 Euro.

"Ich hatte meine literarischen Kräfte überschätzt": Ein weiterer mutiger Versuch des Friedenspreisträgers Boulam Sansal, Islamismus und politische Willkür als schleichendes Gift zu benennen, das die Gesellschaft auseinanderbringt.

Von Rudolf von Bitter

Acht Seiten vor dem Ende lässt der Autor heraus, womit man sich bis dahin herumgeschlagen hat: "Vor längerer Zeit habe ich entdeckt, dass unsere Geschichte nicht in der Form eines Romans erzählbar ist, ich hatte meine literarischen Kräfte überschätzt." Das notiert natürlich eine der Figuren der Geschichte, aber das Fazit bleibt.

Offenbar sind es zu viele lose Enden, die Boualem Sansal hier versammelt hat, um ein Netz daraus knüpfen oder gar ein Bild entstehen lassen zu können: Notizen, Romananfänge und Romanschlüsse, Reflexionen über Thoreaus "Walden" und Kafkas "Verwandlung," diverse Analogien bildende Beobachtungen. So stellt er die Migration afrikanischer und arabischer Menschen nach Europa neben die Auswanderung von Europäern nach Amerika und vergleicht die Gesellschaften, die sie aufnehmen sollen. Auf die Idee könnte ihn ein Besuch des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven gebracht haben, das von einer seiner Figuren ausführlich beschrieben wird.

Vier Stimmen wirken mit an diesem als Romanprojekt präsentierten Text: Ute von Ebert in Erlingen, Erbin eines seit Generationen bestehenden, global agierenden Familienunternehmens, das einer der deutschen Auswanderer in Amerika gegründet hat, und ihre Tochter Hannah, die in England lebt. Ute reflektiert in Notizen, die für ihre Tochter gedacht sind, ausführlich über die drohende Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs obskurer Feinde, über einen Zug, der die Bewohner evakuieren soll, und über die geschwätzige Feigheit der Politiker ihres Dorfs. Offenbar ist sie schon etwas älter, denn sie wiederholt sich auffällig und schwelgt, auch wenn "die letzte Bewährungsprobe der Menschheit" auf dem Spiel steht, etwas zu viel in Worthülsen.

Mit konkreter Gefahr haben die beiden anderen Stimmen zu tun, Elisabeth Potier, Lehrerin in der Pariser Banlieue mit hohem Anteil arabischer Zuwanderer, und ihre Tochter Lea. Nach dem Attentat im Pariser Bataclan geht die Lehrerin zu einer Demo gegen islamistische Gewalt und wird an einem Vorortbahnhof von einem früheren Schüler halb tot geschlagen, weil er sich für muslimisch und sie für eine Feindin hält. Aus dem Koma erwacht, hält sie sich für Ute von Ebert, aber niemand versteht, wieso.

Sansal tritt gegen jede Art von doktrinärer Verblendung und politischer Willkür ein

Boualem Sansal hat 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mit der etwas gönnerhaften Begründung erhalten, dass der Börsenverein damit "ein Zeichen setzen" wolle für die Demokratiebewegung in Nordafrika. Er gehöre "zu den wenigen in Algerien verbliebenen Intellektuellen, die offen Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen üben".

Tatsächlich tritt Sansal gegen jede Art von doktrinärer Verblendung, Terror und politischer Willkür ein. In seinen Büchern hat er unter anderem die Problematik des gewalttätigen Islamismus und seines Terrors in Geschichten verpackt, die das Phänomen anhand individueller Romanfiguren und ihrer inneren Nöte plastisch erscheinen lassen.

Mit seinem schriftstellerischen Engagement hat er sich Feinde gemacht, sodass sein Mut gar nicht genug geehrt werden kann, und mit diesem neuen Text zeigt er ein weiteres Mal geistige Unabhängigkeit, auch wenn das Buch selbst nicht so sehr gelungen ist.

Es hätte ein ausführlicher engagierter Artikel werden können, ein Aufruf, dass man schon in Erfahrung bringen müsse, wen man als Feind hat, wenn man nicht untergehen wolle, ein Essay, der mit der Frage enden könnte: Wenn sich bei Franz Kafka ein Mensch in etwas Hässliches verwandeln kann, kann so etwas nicht auch mit einem Gott passieren? Kafka allerdings lässt offen, wer die Verwandlung bewirkt hat, Sansal zeigt ganz klar auf herrschsüchtige Islamisten.

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