Süddeutsche Zeitung

Botho Strauß' "Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie":Sein besseres Ich

Zwei lieben und trennen sich dann. Davon hat Botho Strauß schon häufiger erzählt. Dieses Mal aber schlüpft er in die Rolle der verlassenen Frau.

Von Jörg Magenau

Für Botho Strauß gibt es nur zwei existentielle Grundbefindlichkeiten: Warten und Suchen. Entweder, so schreibt er, bleibt der Mensch an seinem Ort, "bis alles vorüber ist", oder er geht hinaus und sucht, "bis alles verschwunden ist". Der Unterschied ist nicht sehr groß. Am Ende steht in beiden Fällen das Nichts. Vielleicht macht das den Konservativen aus, dass er zwischen Ortsfestigkeit und Welterkundung keinen großen Unterschied erkennt. Also bleibt man lieber zu Hause und bei sich. Strauß gehört damit wohl zu den Wartenden. Jedenfalls läuft er in seinen Büchern keinem Geschehen, keinen Ereignissen hinterher.

Dabei wären die Voraussetzungen für einen handlungshaften Roman durchaus gegeben: Da ist die Frau, und dort ist der Mann. Die beiden haben sich womöglich geliebt. Dann hat er sie verlassen. So etwas passiert. Sie bleibt als Verlassene zurück und sinnt dieser Begegnung und diesem Mann hinterher. In ihren Worten lässt sich das Geschehen in einem einzigen Satz zusammenfassen: "Wie zwei voreinander sich rasend entkleiden und wieder ankleiden, das wird, im Zeitraffer gesehen, ihre ganze Geschichte gewesen sein." Mehr nicht? Mehr nicht. Doch wer die Zeit abschaltet - und das geschieht ja im Schreiben - macht aus diesem Nichts ein ganzes Buch.

Was Roman werden könnte, hat sich damit jedoch erledigt. In seinen jüngeren Jahren hat Strauß aus einer ähnlichen Konstellation die Erzählung "Die Widmung" gemacht. Damals war es der Mann, der als Verlassener mit seiner Trauer fertig werden musste. Jetzt ist es die Frau, die spricht. Sie ist Lyrikerin und heißt Gertrud Vormweg, erzählt von sich aber auch gerne in der dritten Person als "sie". Der Wechsel zur weiblichen Perspektive ist von großer Bedeutung. Sie ist für Strauß nicht nur eine schützende Hülle und die Gelegenheit zu distanzierter Rollenprosa, sondern vielleicht auch eine Art besseres Ich, in das er schlüpft, empathie- und poesiefähig, wie es der in den Augen der Frau liebesunfähige Mann nicht sein könnte. Außerdem sind ihr, der Frau, gelegentliche misogyne Sätze weniger vorzuwerfen, als sie ihm, dem Mann vorgeworfen werden würden.

Bei Botho Strauß geht es ohne Tragik zu, seine Figuren stürzen sich bloß ins Verstummen

Alles ist Rollenprosa. Doch die Sprecherin ist keine Figur, keine ausgeführte Person, sondern eher ein lyrisches Ich, das aus nichts als Sprache besteht. Was Handlung sein könnte, wird zum Sprechakt und schließlich in Stimmung und Gedanken aufgelöst. "Sollte ich je eine Geschichte erzählen," schreibt Botho Strauß in der Rolle dieser Frau, "sie verlöre sich in einem fortwährenden Stimmungswechsel, und dieser Wechsel wäre das Letzte, was sich noch bewegte im Stillstand des Vermissens."

Zunächst klingt der in kurze Abschnitte, Szenen, Gedankensplitter unterteilte Text wie ein Monolog für die Theaterbühne, mythisch überhöht, als spräche da Christa Wolfs "Kassandra". Auch Strauß' Rednerin versetzt sich in die Antike, indem sie sich mit der karthagischen Prinzessin Dido vergleicht. Dido verliebte sich in Aeneas auf seiner Flucht, wurde von ihm aber, weil er ja Rom gründen musste, verlassen. In ihrer Trauer stürzte sie sich in ihr eigenes Schwert.

Derlei handlungshafte Tragik liegt Gertrud Vormweg nicht. Doch was sie in der Sprache vollzieht, ist eine andere Form der Selbstauflösung und Auslöschung als Bewegung hin zum Verstummen. Das Leben ist vergangen zwischen dem "Noch nicht" der Jugend und dem "Nie wieder" des Alters. Dabei überwiegt jedoch der Tonfall des "Nicht mehr", den Strauß' Protagonistin im Lauf der Rede von der Trauer des Verlusts des Geliebten in ein aktives Abschiednehmen aus Überdruss an der dinglichen Welt überführt. So endet das Buch mit den Worten, die ihm den Titel geben: "Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nichts mehr. Nicht."

Nichts bleibt von dieser existentiellen Abwendung unberührt, nicht einmal die Sprache selbst, die Strauß der medialen Kommunikation und der bloßen Unterhaltung entgegensetzt. Nur in und mit der Sprache ist das Sein berührbar. Da gelingen Strauß immer wieder schlichte, wunderschöne Miniaturen. Dann sind es die Wörter selbst, die materielle Gestalt gewinnen und die Schrift zu einem unmittelbaren religiösen Erfahrungsraum werden lassen. So schreibt die Erzählerin über sich als "sie": "Von nun an, wenn sie das Wort Gott schreiben wollte, kam sie aus dem O-Rund nicht wieder heraus. Das O entließ ihre Hand und ihren Stift nicht mehr. Sie kreisten endlos darin."

Da ist es auch nicht verwunderlich, wenn Strauß - oder vielmehr seine Protagonistin - sich nach Hieroglyphen sehnt, nach Chiffren, nach "Zeichen der Geheimhaltung", nach "Schonung", nach einer "Sprache des gesenkten Lids". Die "Chiffren für sie" - so der Untertitel des Buches - wären demnach eine Art Geheimsprache, die "das Weltwissen aufbewahrt wie in einem Fingerhut". "Chiffren für sie" heißt aber auch, dass sie selbst, die Lyrikerin Gertrud Vormweg, als sprechendes Ich nur eine Chiffre ist, damit die Sprache einen Leib erhält, mit dem sie sprechen kann. Strauß sucht nach "Worten der vollkommenen Sinnlichkeit, wie keine Haut, kein Körper sie je erregen könnte". Sein Ideal wären "Worte, an die man sich lehnt, in sie verloren, wie an eine Mauer im Weinberg."

Kann das gelingen? Ja, aber zu einem hohen Preis. Denn Leib und Sinnlichkeit sind nicht ohne Vergänglichkeit zu haben. Am Ende ist also auch die Sprache nicht vor dem Zerfall gefeit. Auch Mauern im Weinberg, so poetisch sie sein mögen, stürzen irgendwann ein. Am Ende allen Schrifttums sieht Strauß einen Menschen, der von den tausend Büchern, die er las, nichts behalten hat als das Alphabet, das er aufsagt. Was bleibt von Gott, wenn er nichts ist als ein rundes O?

Strauß' weibliches Alter Ego bezieht sich auch darin auf die mythische Figur der Dido. Dido erhielt vom Numiderkönig eine Kuhhaut, die die Fläche des Gebiets bestimmen sollte, auf dem sie mit ihrem Gefolge siedeln durfte. Sie zerschnitt die Haut in feinste Streifen und legte so die Grenzen fest, innerhalb derer Karthago entstand. So wie Dido die Kuhhaut, zerschneidet die Autorin ihren Text in einzelne Zeilen. Exakt darin besteht das ästhetische Verfahren von Botho Strauß. Er hofft darauf, dass die einzelnen Sätze, aneinandergelegt, ein größeres Terrain öffnen, als es ein von Handlung, Dialog und Geschehen begrenzter Roman je könnte.

Botho Strauß ist der wortreiche Romantiker des Verstummens. Er spricht, wo niemand mehr zuhört, spricht mit sich selbst auf seinen einsamen Wegen durch die Uckermark mit ihren Weiden, Seen, Rapsfeldern und Rebhühnern, die auch diesem Buch einen konkreten Ort geben. Das Geschriebene bietet Gelegenheit, ihn dabei zu belauschen, so wie den Wind, der durch die Bäume fährt.

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