Süddeutsche Zeitung

Botho Strauß:Der geschlossene Vorhang

Verächtlich gegenüber der Gegenwart, anhänglich den Vorfahren verbunden: Botho Strauß in zwei neuen Büchern, dem unaufgeführten Drama "Saul" und dem Erzählband "Zu oft umsonst gelächelt".

Von Lothar Müller

Zum festen Personal der modernen Literatur gehört die Figur des Unzeitgemäßen. Sie hatte ihre ersten großen Auftritte im 19. Jahrhundert, als mit den Druckerpressen und Papiermaschinen die Zeitungen an Bedeutung gewannen, als Organe der öffentlichen Meinung und der "Jetztzeit", der zugespitzten Gegenwart, des fortwährenden Staccato der Aktualität. Die "Unzeitgemäßen Betrachtungen", die Nietzsche ab 1873 publizierte, waren gegen die öffentliche Meinung gesetzt, gegen die Aktualität der Druckerpresse. Der Bildungsphilister, den sie attackierten, war ein Zeitungsleser. Noch eine Generation zuvor war das Unzeitgemäße das Anachronistische gewesen, die in die Gegenwart hineinreichende Schwundstufe einer Vergangenheit, die ihr Überlebtsein nicht begriffen hatte. Mit Nietzsches Umwertung des Begriffs betrat der Unzeitgemäße als stolzer, einsamer Widersacher des Zeitgemäßen die öffentliche Bühne, und er hat sie bis heute nicht verlassen.

Im Gegenteil, mit dem Aufblühen der Blogs und dem digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit, ist ein neuer Typus von Zeitgemäßheit entstanden, der nach seinem Widersacher verlangt. Die Einsicht in die Paradoxie, dass der Unzeitgemäße in der Moderne eine ewig aktuelle Figur ist, findet sich in den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches: "Wenn ich einstmals das Wort ,unzeitgemäß' auf meine Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Wort aus! Heute begreife ich, dass mit dieser Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu den modernsten der Modernen gehörte." Kurz, der Unzeitgemäße ist nicht weniger modern als sein Widerpart, der Avantgardist, die Vorhut des Fortschritts. Er ist dessen strikt anti-utopisches Gegenüber, aber die Maske des Nachzüglers, der von der Vergangenheit nicht lassen mag, trägt er nur zum Schein. Er rivalisiert mit den Fortschrittsfreunden nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart. Manchmal sieht es so aus, als begnüge er sich damit, sie verächtlich zu machen. In Wahrheit aber will er sie prägen.

Kaum ein anderer Autor der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hat sein Werk energischer in die Hohlform des Unzeitgemäßen hineingeschrieben als Botho Strauß, seit er in "Paare, Passanten" (1981) die "Minima Moralia" Theodor W. Adornos als eine Heimat, "die doch keine Bleibe war", vorerst beiseitelegte und fortan nicht müde wurde, auf der Bühne wie in der Prosa die aufgeklärten, liberalen, religiös unmusikalischen "Gegenwartsnarren" so zu betrachten wie einst Nietzsche die Philister.

Sein letztes Drama "Das blinde Geschehen" war eine Revue über das Verschwinden der Welt im Display. In seinem letzten Prosaband erkannte der Titelheld, "Der Fortführer", unschwer als Variante des Unzeitgemäßen zu erkennen, im scheinbar Neuesten, den "untergründigen Überlieferungsstrom" und empfahl den Gegenwartsschriftstellern, sich auf ihre Überlieferungspflichten zu besinnen: "Etwa das herrschende Kurz- oder Magerdeutsch wieder in ein gedehntes, gut genährtes Deutsch zu übersetzen. Oder mit den Luftgeistern der Sprache überzeitlich in Kontakt zu treten, Vernetzung durch die Zeiten herzustellen, ein Verfahren, das die Alten hypoleptisch nannten, wenn jemand an die Worte seines Vorredners anknüpfte. Man könnte auch von einer Ästhetik der Anhänglichkeit sprechen."

"Die Wüste steigt mir in den Schädel. Hinter der Stirn nichts als Staub und Geröll."

Vor Kurzem hat Botho Strauß, der Anfang Dezember 75 Jahre alt geworden ist, zwei Bücher veröffentlicht, das Drama "Saul" bei Rowohlt, und den Prosaband "Zu oft umsonst gelächelt" bei Hanser. Beide geben Gelegenheit nachzufragen, was es mit der "Ästhetik der Anhänglichkeit" auf sich hat. Schon vor Jahren ist das Drama "Saul" entstanden. Ein im Anhang abgedruckter Brief des Autors an den Komponisten Wolfgang Rihm lässt erkennen, dass es als Opernlibretto gedacht war. Rihm hatte von der Berliner Staatsoper den Auftrag erhalten, es zur Neueröffnung 2017 zu vertonen, aber das Projekt scheiterte an der Erkrankung des Komponisten. Sein Stoff ist, knapp gesagt, der alttestamentarische König Saul, wie Rembrandt ihn gemalt hat: als Trostbedürftigen, von Gott Verlassenen, der vor dem bösen Geist, der in ihn gefahren ist, Linderung im Harfenspiel Davids findet, des jungen Siegers über den Philister Goliath.

Strauß hält sich eng an die Vorlage im Buch Samuel. Mit der Auflösung der biblischen Erzählerstimme in den Dialog fallen viele Details fort. Es bleibt der hier und da angereicherte Grundriss, beginnend mit dem Begehren des Volkes Israel nach einem König, mit der Übergangsfigur Samuel, die diesem Begehren Rechnung trägt, widerwillig, weil es die unumschränkte Herrschaft Gottes infrage stellt. Die Einsetzung Sauls durch Salbung und Los, den fortwährenden Kampf der Israeliten gegen die Philister, in dem sich Sauls Sohn Jonathan hervortut, die Sauls Argwohn herausfordernde Freundschaft zwischen Jonathan und David, den Besuch Sauls bei der Hexe von Endor, die hier noch so heißt, aber eine undämonische Wahrsagerin ist, all das bis hin zum Tod Jonathans in der Schlacht und Sauls Suizid durch den Sturz ins eigene Schwert fokussiert Strauß auf das Drama des unglücklichen, seiner Berufung nicht gewachsenen Königs.

"Gottes falsche Wahl" habe er sein Stück nennen wollen, teilt der Autor mit. Sein Saul ist der unglückliche König, dem die Herrschaft misslingt, der Saul Rembrandts. In David, dem Harfenspieler, steckt der künftige König. Einen Klagegesang auf Saul singt er hier nicht, mit seinem überwältigenden Triumph endet das Stück. Dem Autor ist David suspekt. Ein Kompliment ist es nicht, wenn er ihn (im Anhang) als "Strahlemann" tituliert und betont, ihn habe "die Kontrastbindung zwischen König Saul, dem Urdepressiven, und David, dem Urbegünstigten und -begabten" angezogen. Die Urbegünstigten sind in der Strauß-Welt die Zeitgemäßen, Saul aber rückt ein in den Reigen der Figuren der Überlastung, des verfehlten Lebens: "Die Wüste steigt mir in den Schädel. Hinter der Stirn nichts als Staub und Geröll."

Worin liegt hier die "Ästhetik der Anhänglichkeit"? Der Rückgang auf den mit seinem - überaus grausamen - Gott und sich selbst zerfallenen Urmelancholiker Saul ist nur die eine Seite. Die andere ist die Anhänglichkeit an die Sprache der Bibel. Sie erschöpft sich nicht in der Paraphrase, kann aber ihr Ziel, die Annäherung an die Diktion des Alten Testaments nicht erreichen. Sie kann nur so viel wie möglich von der aufgelösten biblischen Erzählerstimme in den Dialog hineinnehmen, ohne den Eindruck des gewollt Archaischen hervorzurufen. Das gelingt Strauß so gut, dass es schade wäre, dieser "Saul" bliebe ein Lesedrama. "Ich biete das Stück, wie es ist, nicht öffentlich an. Was auch ein jämmerlicher Witz wäre, weil kein Theater so was heute machen würde", schreibt er im Brief an Wolfgang Rihm. Das ist die Diktion des Unzeitgemäßen in ihrer selbstgewissen, also eher schwachen Variante.

Figuren, die als substantivierte Adjektive auftreten, sehnen sich nach der Bühne

Hoffen wir auf ein Theater, das diese Selbstgewissheit dementiert und das Stück aufführt, am besten als Kammerspiel auf einer Probebühne, und wenden uns dem Prosaband "Zu oft umsonst gelächelt" zu. Er aktualisiert das vor Jahrzehnten, in "Paare, Passanten" gefundene Modell, die Kaskade unverbunden aufeinander folgender Prosaskizzen, in denen die Figuren Schrecksekunden erleben, sich durch unwillkürliche Gesten oder eine unzeitige Bemerkung blamieren, sich blitzartig ineinander verlieben und rasch wieder entlieben. Das "umsonst" im Titel meint eher "vergeblich" als "kostenlos", aber ohne Unglücksbilanzen geht es nicht ab.

Der Band ist weniger den Passanten als den Paaren und den Einzelnen gewidmet, die aus dem Paarsein herausfallen oder gar nicht erst hineinfinden, den unschlüssigen Affären, den verpassten Gelegenheiten. Da gibt es das Paar, das am Ende einer Tagung nicht abreist, beisammen bleibt, aber dann doch die Frist versäumt, in der es ein Liebespaar hätte werden können. Oder das Paar, das Jahrzehnte nach einer unversöhnlichen Auseinandersetzung noch einmal zusammenfindet, zusammengeführt womöglich von der Trennung, wie ein bemerkenswerter Satz der Frau erkennen lässt: "Ich habe alles aufbewahrt. Wenn etwas in der Zeitung stand, etwas Neues zu unserem Thema, das uns damals entzweite."

Es gibt eine locker hingetupfte Rahmenerzählung in diesem Band. Darin wird ein alter Romancier von seinem Gast, einem jungen Kollegen, zu Bett gebracht. Und wer will, mag all die Prosaskizzen, die nun folgen, als späte Geschichten zu später Zeit lesen, als eine Art "Goldberg-Variationen" zu Botho-Strauß-Motiven, einschließlich der Invektiven gegen das Herunterkommen der Sprache, die Herabwürdigung des Eros in Zeiten der Formlosigkeit. Dann wäre hier die Ästhetik der Anhänglichkeit hier eine Treue zur eigenen Erzählform und zu den Gewährsleuten, auf die sie gern zurückkommt. Wolfram von Eschenbachs "Parzival" und "Titurel" tauchen auf, Sappho und Artemisia, Penelope und Odysseus, Judith und Holofernes, Filme von Antonioni und Kubrick. Aber alle diese Wiedergänger aus epischen Beständen sind nicht ganz bei sich. Der alte Romancier ist wie das Reflexionsspiel mit Erzählmustern eine Attrappe.

Der Ungeschickte, die junge Wissbegierige, die scheltende, auftrumpfende, urfluchende Schöne, all die Figuren, die als substantivierte Adjektive auftreten, sehnen sich nicht nach dem Roman, sondern nach der Bühne. "Wenn eine Frau schön ist, dann bleibt sie auch als Sprecherin eines Wirtschaftsverbandes eine jenseitige Erscheinung. Schönheit gehört zum Spektrum nicht erschließbarer Strahlungen, die Zeit, Amt, Gut und Böse überlagern. Sie rühren von Offenbarungsvorgängen, die weiter zurückliegen als die Rotverschiebung zu Beginn des Universums." Das ist, als essayistische Prosa, auf einen großen Hallraum hin, mit zu viel Pedal geschrieben. Als Figurenrede, etwa einem gebildeten Architekten im Gespräch mit einem Immobilienmakler im heutigen Berlin in den Mund gelegt, wäre es hinreißend. Vor vierzig Jahren erfand sich Botho Strauß als Unzeitgemäßer im Gegenüber der Prosa von "Paare, Passanten" und des Zeitstücks "Kalldewey, Farce". Noch ist der Vorhang für die Figuren geschlossen, die sich im neuen Prosaband nach einem Bühnenauftritts sehnen. Es wäre schön, er würde sich öffnen.

Botho Strauß: Saul. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2019. 96 Seiten, 20 Euro. Botho Strauß: Zu oft umsonst gelächelt. Carl-Hanser-Verlag, München 2019. 220 Seiten, 22 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4733489
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.