"Born Digital":Nicht ohne mein Offline-Selbst

Was bedeutet das Internet für die Generation, die ein Leben ohne Computer und Vernetzung gar nicht mehr kennt? John Palfrey und Urs Gasser liefern eine der ersten ernstzunehmenden Zwischenbilanzen der Digitalisierung.

Der Verlag war nicht gut beraten, das Buch "Generation Internet" zu nennen. Sachbücher, die jedes Irgendwas, mit dem sich Menschen beschäftigen, zum prägenden Indiz einer Klasse von Zeitgenossen ausrufen und diese dann zur "Generation Irgendwas", gibt es genug.

"Born Digital": Jugendliche Computerspieler: Ein Leben ohne Rechner und Vernetzung ist für sie unbekannt.

Jugendliche Computerspieler: Ein Leben ohne Rechner und Vernetzung ist für sie unbekannt.

(Foto: Foto: AP)

Wenn also der Hanser Verlag das im englischen Original "Born Digital" betitelte Buch hierzulande als weiteres Generationen-Werk auf den Markt wirft, dann könnte dies einerseits dazu führen, dass es im Gewusel der Generationenbücher untergeht, und dass es andererseits für allzu leichte Münze genommen wird. Beides hat der Band nicht verdient.

"Born Digital" ist von zwei Professoren geschrieben, den Rechtsprofessoren John Palfrey und Urs Gasser, die von sich behaupten, zu früh geboren zu sein, um als eingeborene Digital-Zöglinge durchzugehen - beide sind Jahrgang 1972.

Dennoch dokumentieren sie - vor allem in einem etwas prätentiös aufgemachten Nachwort -, dass sie einem immer etwas atemlosen Jetset angehören, der anscheinend nur von Flughäfen aus korrespondieren kann, wenn Zwischenstopps schnelle Email-Botschaften erlauben.

Wasserscheide zwischen den Generationen

Gleichwohl entfalten Palfrey, der Gelehrte des "Berkman Center for Internet and Society", das der "Harvard Law School" angegliedert ist, und Gasser, Direktor der Forschungsstelle für Informationsrecht an der Universität St. Gallen, einen dichten Text zur Bedeutung jenes gesellschaftlichen Wandels, den die digitale Revolution ausgelöst hat.

Die Ausgangsthese dabei: Mit dem Internet hat nicht nur ein neues Kommunikationsmedium seinen Siegeszug angetreten. Es hat die Weisen, in denen sich Menschen selber definieren und verhalten, grundlegend revolutioniert.

Angenommen wird hier eine Art Wasserscheide zwischen den Generationen, die mit dem Scheitel etwa um 1980, dem Aufkommen der Personal Computer, die Gesellschaft in ein Davor und Danach spaltet.

"Born Digital" bilanziert alle wesentlichen technologischen Entwicklungen der Digitalisierung und der weltweiten Vernetzung von Computern in ihren Auswirkungen auf die menschliche Kommunikation. Und das sowohl historisch als auch systematisch. Damit ist es eine der ersten, ernst zu nehmenden Zwischenbilanzen des digitalen Zeitalters.

Gleichwohl fällt ein gewisses Raunen unterhalb des analytischen Tons auf, ein Argwohn, den die beiden zu früh Geborenen wohl weiterhin dem unbekümmerten Gebrauch der Technologie gegenüber zu hegen scheinen.

So liest sich das Buch streckenweise auch wie einer jener Beipackzettel, die vor Nebenwirkungen und Risiken von Medikamenten warnen. Mit geringer Schlagseite also wird diskutiert: der teils frivole Umgang mit persönlichen Informationen im Netz, das Problem der "ewigen" Haltbarkeit der Daten, die Gefährdung der Jüngsten durch inadäquate Inhalte wie Pornografie und Gewalt, Fragen rund um Urheberrechtsverletzung und digitales Rechtemanagement, dazu Mobbing und Stalking, Verwirrung durch Informationsüberangebote, die neuen Möglichkeiten zu Selbstdarstellung und Kommunikation und die neu eröffneten politischen Räume zur Kommentierung und Versammlung im Web. Mit anderen Worten: ein Themen-Bouquet, das weder Blumen noch Sumpfblüten der globalen Vernetzung auslässt.

Haltbarkeit persönlicher Daten im Netz

Dabei belassen es die Autoren nicht bei der Zusammenstellung und Aufzählung technologischer Innovationen. Ihr Blick richtet sich stets auf die Konsequenzen, die diese für ihre Nutzer bedeuten.

So schreiben sie zur Identitätsstiftung einer Sechzehnjährigen: "Aus Sicht eines 'Digital Native' zerfällt seine Identität nicht in eine Online- und eine Offline-Identität oder in eine persönliche und eine soziale Identität. Weil alle Identitätsformen simultan existieren und so eng miteinander verbunden sind, unterscheiden 'Digital Natives' nie zwischen der Online- und der Offline-Version ihrer selbst." Und darum wird, so referieren es die Autoren, die Frage nach der "Identität" zum "Dauerthema in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen".

Dort vielleicht, nicht aber in "Born Digital". Denn die Autoren schwenken an dieser Stelle ab - weg von der intrinsischen Identitätsproblematik, die vielleicht Soziologie, Philosophie und Psychologie beschäftigen mag, hin zum Problem der ungeahnten Haltbarkeit und Rekonstruierbarkeit der persönlichen Daten im Netz.

Vielleicht merkt man gerade an dieser Stelle, dass Rechtsprofessoren das Buch geschrieben haben. Ihre von juristisch fundiertem Interesse geleiteten Ausführungen zum "Paradox des Internetalters" sind nachgerade von süffiger Komplexität: "Eines der Paradoxe des Internetzeitalters besteht darin, dass es 'Digital Natives' in der Realität so eng wie noch nie an eine einzige Identität bindet, obwohl sich ihnen mittels all dieser Technik eine nahezu unbegrenzte Palette an Möglichkeiten eröffnet, um sich auf ungezählten Plattformen neu zu erschaffen.

Denn das Ausmaß, in dem sämtliche Informationen, die eine Person über sich selbst preisgibt, von einem Ort zum anderen nachvollzogen werden können, wächst immer weiter.

So wird in jedem einzelnen Augenblick viel mehr von der Identität des "Digital Native' sichtbar." Zu recht ist den Auswüchsen dieses Data-Minings und seinen Konsequenzen ein ganzes Kapitel gewidmet.

Spätestens hier aber wird das Raunen von der Gefährdung unüberhörbar. So wird die Frage, warum 16-Jährige so viele Informationen über sich preisgeben, lediglich unter dem der Psychologie entliehenen Etikett der "Disclosure deciscion models" verbucht, also der bewussten Preisgabe persönlicher Informationen zu kommunikationsstrategischen Zwecken.

Verzicht auf Kontrolle

Viel drängender erscheint den Autoren die Erörterung der angrenzenden Frage, wie Jugendliche vor den stetig anwachsenden Dossiers über sie geschützt werden können. Der wer vermöchte schon zu sagen, wer einmal was wann über wen in Erfahrung bringen möchte und dann auch in Erfahrung bringen wird?

Geradezu visionär malen Palfrey und Gasser unter den Stichpunkten Privatsphäre und Sicherheit Szenarien aus, um immer wieder festzuhalten: "Entscheidungen, die wir aus Bequemlichkeit treffen, bringen einen Verzicht auf Kontrolle mit sich, von der wir in Zukunft wohl wünschen werden, wir hätten sie nicht aus der Hand gegeben."

Insofern liegt die eigentliche Bedeutung dieses Buches weniger im historischen Aufriss einer Geschichte der Vernetzung, der gleichwohl gründlich und gut informiert ausfällt. Auch liegt er nicht in der eher willkürlichen Setzung einer Generationendifferenz, die den Hanser Verlag indes zu seiner unglücklichen Titelwahl inspirierte. Seine eigentliche Bedeutung erlangt das Buch als Bestandsaufnahme und begründete Forderung nach einem gesellschaftlichen Diskurs zur Wirklichkeit des Virtuellen, von dem wir erst jetzt zu ahnen beginnen, dass er wohl geführt werden muss.

Bekannte Autoren sitzen Rede und Antwort. Auf dem Blauen Sofa während der Frankfurter Buchmesse.

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