Europäische Literatur:Im Meer der Dummheit

SWITZERLAND LITERATURE BORA COSIC

„Ich habe mich aus dem Staub gemacht, mein entsetzlich dummes Land verlassen ...“: Bora Ćosić im Literaturhaus Zürich.

(Foto: Picture-Alliance/KEYSTONE)

Bora Ćosić ist der literarische Gegenspieler des Nationalismus in Serbien und Kroatien. Wie unbeliebt er sich damit macht, zeigt sein Roman "Im Zustand stiller Auflösung".

Von Marko Dinić

Die Geschichte der Überlieferung dieses Romans könnte selbst der Aufhänger für einen guten Roman sein. Dieses Buch ist schon einmal geschrieben und verlegt worden. Bora Ćsić hatte "Im Zustand stiller Auflösung" 1991, kurz vor Beginn des Krieges in Bosnien, in Sarajevo herausgebracht. Wenn auch nicht genau dokumentiert ist, was mit dem Buch während und nach der Besatzung Sarajevos passierte, ist es wahrscheinlich den Reinigungsfantasien serbischer Nationalisten und ihrer Soldateska zum Opfer gefallen. Jedenfalls musste der Autor dieses Buch, dessen serbischer Originaltitel "Rasulo" so viel wie Verfall oder Auflösung bedeutet, "neu schreiben - angesichts der Masse neuer Beweise, wie tief der Mensch sinken kann, vor allem, wenn der Verstand aussetzt".

Nachfrage bei Bora Ćsić: Wie kann man sich den Rekonstruktionsprozess eines Romans vorstellen? "In der neuen Version habe ich mich bemüht, die Situation von vor 25 Jahren wiederaufleben zu lassen. Das Buch ist mehr oder weniger dasselbe geworden, wie es einmal war, nur die letzten paar Kapitel sind neu dazugekommen. Dies kann durchaus als eine Art Rückholung des geistigen Eigentums gesehen werden, das wir durch diesen Krieg verloren haben", erklärt der Autor.

Unermüdlich kämpft Ćosić für das Erbe seines Kollegen und Freundes Radomir Konstantinović

Der bosnische Autor Miljenko Jergović hat Bora Ćsić, der 1932 in Zagreb geboren wurde, einmal einen Schriftsteller mit mehreren Biografien, verschiedenen Stimmen und Stilen genannt. Damit ist er eine seltene Erscheinung bürgerlicher Literatur, sowohl in Serbien, wo er bis 1992 in Belgrad lebte, als auch in Kroatien, wo er bis heute in der Küstenstadt Rovinj ein Haus besitzt. Durch sein bewegtes Leben hindurch (Publikationsverbot im Tito-Jugoslawien; Flucht und Emigration während der Jugoslawienkriege) schreibt der seit 1995 in Berlin lebende Autor an einem großen, europäischen Werk wider die Idiotie des Krieges, des Nationalismus und der geistigen Verarmung. Die Vielstimmigkeit seiner Romane und Essays, ihr Witz, ihr Intellekt und der mäandernde Duktus machen Ćsić zu einem der wenigen und dadurch umso wichtigeren Vertreter avantgardistischen Erzählens aus dem ehemaligen Jugoslawien.

So ist auch der Roman "Im Zustand stiller Auflösung", der jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist, eine schmale, aber konsequente Fortführung jenes Werkes, das mit "Die Tutoren" einen Schlüsseltext serbischsprachiger, postmoderner Prosa des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat. In dieser nun wiederauferstandenen Geschichte landet ein namenloser Ich-Erzähler, der mit seiner bulgarischen Ehefrau und einem befreundeten französischen Ehepaar eine Reise auf den Spuren Marcel Prousts nach Cabourg in der Normandie anzutreten beabsichtigte, im kleinen Ort Tréboul. Er empfindet dort äußerste Abscheu. In 31 meist kurzen Kapiteln schildert der Erzähler in einer Art innerer Nabelschau Begebenheiten und Begegnungen, die sich nur in ihrer Belanglosigkeit zu überbieten scheinen.

Das immer wieder vorgeschobene Unwohlsein des Protagonisten entpuppt sich mit fortschreitender Lektüre als großes, existenzielles Unbehagen an der Welt selbst: "Was heißt Kranksein, wenn Menschsein an sich schon krankhaft ist? Dann ist ein kranker Mensch doch nichts weiter als ein Pleonasmus." Wie in vielen seiner Werke legt der Autor auch hier eine Weitsicht an den Tag, die nichts Prätentiöses hat, sondern pointiert und mit viel Humor eine an sich selbst krankende Welt darstellt. Die Lektüre der sich manchmal über eineinhalb Seiten erstreckenden Sätze ist ein Genuss, weil sie von den aberwitzigen, grotesken, mitunter menschen- und menschheitsverachtenden Ansichten ihres Sprechers humorvoll aufgewogen werden. Die Übersetzerin, Brigitte Döbert, beweist bei der Ausformulierung der vertrackten Passagen einen langen Atem und zeigt eindrucksvoll, warum sie zur deutschen Stimme serbokroatisch-sprachiger Autorinnen und Autoren geworden ist.

Dass er sich mit dem heutigen Serbien noch immer nicht versöhnt habe - und im Übrigen auch nicht mit dem heutigen Kroatien -, sagte Bora Ćsić 2016 in einem Interview mit Radio Free Europe. Die Aussage verwundert kaum angesichts der Tatsache, dass eine aggressive, nationalistische Kulturpolitik zur nahezu vollständigen Tilgung seines literarischen Ansehens und Erbes in Serbien geführt hat. Bücher können nicht nur brennen, sie können auch durch kollektives Schweigen in Vergessenheit geraten. Ćsić und sein mittlerweile verstorbener Schriftstellerkollege und guter Freund, Radomir Konstantinović, waren die prominentesten Opfer dieser Politik, die Kritik am eigenen traditionalistisch-revisionistischen Weltbild und autoritären System genauso wenig duldet wie eine angemessene Aufarbeitung der Gräueltaten serbischer Kriegstreiber.

Der ehemalige serbische Präsident und erklärte Tschetnik, Tomislav Nikolić, und der derzeitige Präsident, Aleksandar Vučić ("tötet einen Serben, wir töten Hunderte Muslime") sind Repräsentanten eben jenes Nationalismus, dessentwegen Ćsić seinerzeit das Land verließ. Es waren der Krieg und alles Barbarische, was dieser nach sich zog, die den Autor - wie er selber stets betont - zwangen, seinen Wohnsitz von Belgrad, wo er fast fünfzig Jahre lang lebte, nach Berlin zu verlagern. Regelmäßig kehrt er zwar in seine Heimatstadt zurück, hält es dort jedoch kaum mehr als eine Woche aus. Und während Ćsićs Werk wegen seines literarischen Ansehens im Westen auch in Serbien wieder mehr Beachtung findet, droht etwa der Name Radomir Konstantinović in der Versenkung zu verschwinden. Einige wenige lassen sich aber nicht beirren und kämpfen um sein umfangreiches literarisches, philosophisches und essayistisches Erbe - ganz vorne mit dabei: Bora Ćsić.

Vor diesem Hintergrund kommt der Lektüre des Romans "Im Zustand stiller Auflösung" eine unheimliche Gegenwärtigkeit zu. Angesichts der sich mehrenden, nationalistisch-populistischen Ausfälle unserer Tage, drängt sich die Frage auf, ob die Europäerinnen und Europäer und die Europäische Union als Institution aus den Jugoslawienkriegen - den jüngsten bewaffneten, ethnisch motivierten Kriegen auf europäischem Boden - überhaupt etwas gelernt haben. Die Anklage des Protagonisten in Bora Ćsićs Roman jedenfalls fällt schwer aus: "Ich habe mich aus dem Staub gemacht, mein entsetzlich dummes Land verlassen, das sich über seine amtlich beglaubigte Blödigkeit hinaus als extrem gewalttätig erwies, obwohl ich das für unmöglich hielt, wer dumm ist, dachte ich, kann nicht gleichzeitig blutrünstig sein, eben weil er dumm ist, aber so ist es nicht - er kann! Angekommen in einem anderen Land, weit weniger gewalttätig, fast friedlich, befand ich mich nach wie vor in einem Meer voll Dummheit. Sie durchtränkt die zwischenmenschlichen Beziehungen, denn es sind dieselben Menschen; die Völker Europas unterscheiden sich in ihrer Dummheit kaum."

Bora Ćsić: Im Zustand stiller Auflösung. Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Söbbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 128 Seiten, 18 Euro. Marko Dinić, geboren 1988, aufgewachsen in Belgrad, lebt in Wien. 2016 war er für den Bachmannpreis nominiert, sein Debütroman "Die guten Tage" erscheint im Frühjahr im Zsolnay Verlag.

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