Süddeutsche Zeitung

International Booker Prize:Früher war alles besser

Der International Booker Prize geht zum ersten Mal an einen bulgarischen Autor: an Georgi Gospodinov für "Zeitzuflucht", der von der Sehnsucht nach der Vergangenheit erzählt.

Was, wenn man sich zurückbeamen könnte in ein Jahrzehnt, in dem es der Familie, der eigenen Nation deutlich besser ging als heute? Einfach dem Horror der Gegenwart entschwinden? Wäre das erstrebenswert, oder wäre das Geschichtsklitterung? Dieser Idee geht der bulgarische Autor Georgi Gospodinov in seinem Roman "Zeitzuflucht" lakonisch nach und wurde jetzt in London dafür mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Es ist das erste Mal, das ein bulgarischer Autor den renommierten, mit 50 000 Pfund dotierten Preis erhält, die englische Übersetzung von "Time Shelter" stammt von Angela Rodel. Auf Deutsch ist "Zeitzuflucht" 2022 beim Aufbau-Verlag erschienen (und übersetzt von Alexander Sitzmann).

Leïla Slimani, Vorsitzende der Jury, würdigte die feine Ironie und die Melancholie des Romans, der die Frage ergründe, wie wir als Individuen und Kollektive mit Erinnerung und Vergangenheit umgehen, mit dem "Gift der Nostalgie". Es geht in "Zeitzuflucht" zunächst um einen Arzt, Gaustín, der in Zürich eine "Klinik für die Vergangenheit" für Demenzkranke eingerichtet hat, jedes Stockwerk nach einem anderen Jahrzehnt gestaltet. Schließlich ist es die Vergangenheit, in der sich die Patienten wohlfühlen, die Gegenwart macht ihnen Angst. Die Idee wird bald schon gekapert von Gesunden, sie zieht immer weitere Kreise, wird zum politischen Leitbild ganzer Nationen. Überall in Europa erblühen längst überwundene Zeiten neu, ergreifen Diktatoren die Macht, bricht Chaos aus.

Der Roman dreht sich auch um das Erstarken nationalistischer Bewegungen in Europa

Der Roman, in Bulgarien 2020 erschienen, trifft ins Herz eines verunsicherten Europas, in der Nationalisten vielerorts wieder erstarken. Außerdem, so Jurorin Slimani, bereichere der Roman die Leser durch die Perspektive aus einem Land wie Bulgarien, das noch im ideologischen Konflikt zwischen der westlichen und der kommunistischen Welt stünde. Dass man bei dem Roman auch an den Krieg in der Ukraine denkt und die russische Geschichtspolitik, liegt auf der Hand.

Schon am Donnerstag dieser Woche wird noch ein weiterer wichtiger Literaturpreis verliehen, der mit erstaunlichen 100 000 Euro dotierte Dublin Literary Award. Auf der noch sechs internationale Titel umfassenden Shortlist steht auch der deutsche Roman "Marzahn, mon amour - Geschichten einer Fußpflegerin" von Katja Oskamp, erschienen bei Hanser.

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