Süddeutsche Zeitung

Mirko Bonnés Roman "Seeland Schneeland":Vorbei ist nicht vorbei

Lesezeit: 3 min

Ein paar Heimatlose und Trunkenbolde auf einem britischen Dampfschiff unter schweren Wettern: Das ist die Lebensmetapher von Mirko Bonnés Roman "Seeland Schneeland".

Von Harald Eggebrecht

Es lohnt sich, für die Lektüre dieses Buches eine gemütlich warme Leseecke zu finden und sich einen heißen Grog zuzubereiten, um für 440 Seiten in Regen und Nasskälte gewappnet zu sein, die schließlich in einer Schneefall- und Schiffskatastrophe enden. Doch es sind nicht nur die harten trüben äußeren Bedingungen, denen die Personen dieser nebeldichten Erzählung ausgesetzt sind, sondern auch das Innere der verschiedenen Protagonisten ist angefüllt mit nagender Enttäuschung, quälender Vergeblichkeit, hoffnungsschwachen Illusionen und melancholischer Leere und Erschöpfung.

Trotzdem gelingt es Mirko Bonné, Jahrgang 1965, mit renommierten Preisen ausgezeichneter Lyriker, Romancier und Übersetzer unter anderem von John Keats, Emily Dickinson, Henry James und Joseph Conrad, dieser Stimmung des Unwirtlichen, Tristen, nahezu Ausweglosen so viele Grauschattierungen und Dämmernuancen abzugewinnen, dass sich sein Personal in dieser Atmosphäre glaubhaft bewegen, seinen Träumen nachhängen und verlorenen Liebesgeschichten nachtrauern kann. Oder es versucht im Februar 1921, all diesen seelischen Beschwernissen und Schulterreitern zu entkommen.

Da gibt es den jungen Waliser Merce Blackboro, der ein Jahrhundertabenteuer hinter sich hat. Er nahm an der Antarktisexpedition auf der Endurance unter Ernest Shackleton teil, die einerseits dramatisch scheiterte, als das Schiff im Packeis zerdrückt wurde. Andrerseits schaffte es Shackleton, der Boss, wie ihn seine Leute nannten, mit schier unglaublicher Durchhaltekraft, nahezu seine gesamte Mannschaft aus scheinbar aussichtsloser Lage zu retten. Davon handelt übrigens Bonnés Roman "Der eiskalte Himmel", 2006 erschienen. Blackboro ist so unsterblich wie unglücklich in die leicht hinkende Ennid Muldoon verliebt, die ihrerseits ihrer großen Liebe nachtrauert, dem in den letzten Tagen des Krieges abgestürzten Flieger Mick.

Manövrierunfähig hängt die ganze Gesellschaft an der Ankerkette

Merce wie Ennid empfinden die kleine Welt der Hafenstadt Newport, walisisch Casnewydd, als eng, trostlos, zukunftslos. Ennid entschließt sich aus dem äußeren und inneren Jammertal auszubrechen und besteigt abschiedslos das Dampfschiff Orion, das sie nach Amerika bringen soll. Blackboro versucht, sie einzuholen, doch als er in Rotterdam ankommt, ist die Orion schon weitergedampft. Niedergeschlagen, verzweifelt kehrt er als Verlierer ins heimische Kontor der Schiffszimmerei in Newport zurück. Eltern, Geschwister, Freunde wissen um Blackboros vergebliche Sehnsucht, ohne ihm aus Selbstmitleid und Lebenskrise heraushelfen zu können.

Auf dem Auswandererschiff treibt auch der superreiche Amerikaner Diver Robey voll Lebensekel sein beleidigendes Unwesen als ständig vom Gin benebelter Trinker. Zu ihm gehört sein treuer Assistent Bryn Meeks, der sich in den freundlichen japanischen Steward Shimamura verguckt. Robey tut sich mit der dreisten Kristina Merryweather zusammen. Beide legen sich mit dem Kapitän bis zu groben Handgreiflichkeiten so sehr an, dass Robey aus krakeelender Trunkenheitslaune heraus einfach das Schiff während der Überfahrt kauft und in Sealand umtaufen lässt. Auf dem Dampfer tummeln sich Passagiere aus allen sozialen Schichten, aus denen Bonné einige exemplarisch herausgreift und in die Geschicke seiner Helden einwebt. Doch die Orion gerät auf der Höhe von Nordschottland in einen nie dagewesenen endlosen Schneesturm, verliert sogar die Schiffsschraube und hängt zuletzt manövrierunfähig an der Ankerkette. Alles läuft auf ein Unheil zu.

Bonnés Figuren grübeln, träumen sich in eine bessere Zukunft oder erinnern sich nostalgisch an ihre guten alten Zeiten, sie schwanken in ihren Gefühlen zwischen Misstrauen und Vertrauen, Geringschätzung und Überschätzung ihrer selbst, sie prüfen ihre Gesichtszüge in Spiegeln oder wenden sich enttäuscht, manchmal angewidert ab. Dennoch fehlt es ihnen an Kontur, Plastizität, Prägnanz. Sie wirken eher wie die Ausführenden langer bis länglicher Gedankenspiele vor und in den nach ewigem Regen riechenden walisischen Häusern, auf dem schäbigen, in schwerer See stampfenden Schiff. So eindringlich Bonné den großen Schneefall oder die Dunkelfarben des Meeres zu schildern vermag, so seltsam blass geraten ihm die Protagonisten, obwohl sie oft bis in die zeitgenössische Kleidung und Mode hinein detailreich ausgestattet werden und eigentümliche Sprachhaltungen vorführen.

Der späte Auftritt des großen Shackleton hat etwas vom Deus ex Machina, wenn er den verzagten Blackboro anfeuert, seine Liebe zu Ennid nicht aufzugeben und dafür auf die Mitfahrt der neu geplanten Expedition zu verzichten: ",Vorbei ist nicht vorbei. Vorbei scheint nur vorbei,' erwiderte er: ,Vorbei zu sein gehört zum Anschein der Dinge, die sich lieber verbergen sollen.'" Blackboro gehorcht dem Boss und macht sich daher nach Nordschottland auf, um dem havarierten Schiff zu helfen.

Am Ende stellt sich dieser manchmal wohliges Frösteln erzeugende Roman als Geschichte von Leuten heraus, die aus der Enge von Herkunft, Heimat und gesellschaftlicher Rolle aufbrechen wollen, aus ihrer alten Haut fahren möchten und doch nicht wirklich vom Fleck kommen. Das ist beabsichtigt und wohl bedacht, denn erst der drohende Schiffsuntergang erzwingt unbedingten Handlungsbedarf. So bleibt die Orion oder Sealand zuletzt, wohlvertraut, das Symbol des Lebensschiffs.

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