Kunst:Der rote Faden ist eine Blutspur

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Alle Arbeit ist essenziell. Neoninstallation von Olu Oguibe in der Nähe des Arnhemer Hauptbahnhofs. (Foto: Sonsbeek 20-24/ Django van Ardenne./Django van Ardenne.)

Bei der Sonsbeek-Biennale in Arnhem zeigt Bonaventure Ndikung, der zukünftige Intendant am Haus der Kulturen der Welt in Berlin, seine antikolonialistische Handschrift als Kurator.

Von Ingo Arend

"Sex Work Is Honest Work". Wer dieser Tage durch Arnhem schlendert, dürfte stutzen, wenn er mitten in der Stadt plötzlich vor der grün-rot flackernden Neoninstallation steht. Was hat die hier verloren?

In der zwölften Ausgabe der traditionsreichen Sonsbeek-Biennale im niederländischen Arnhem dreht sich diesmal alles um Arbeit. Und Olu Oguibe, den Urheber des schrillen Lichtbandes, hat Kurator Bonaventure Ndikung eingeladen, weil er stets für eine Provokation gut ist. Bei der letzten Documenta in Kassel löste der US-nigerianische Künstler mit seinem Obelisken für den unbekannten Migranten einen erbitterten Streit aus. Ob die Bewohner der friedlichen Hauptstadt der Provinz Gelderland am Nederrijn ähnlich auf sein optisches Plädoyer für einen Beruf reagieren, der gemeinhin nicht zu den "essenziellen" gerechnet wird?

Auch noch so ausgeklügelte kuratorische Essays kommen in Arnhem am Kolonialismus nicht vorbei

Sonsbeek läuft im ausufernden Feld der Biennalen seltsamerweise unter dem Radar. Dabei ist das 1949 gegründete Kunstfestival sechs Jahre älter als die Documenta. Das Gründungsmotiv war das gleiche: Nach den verheerenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg sollte die Kunst die soziale und kulturelle "Reconstruction" forcieren. Sein Grundthema verfolgt "Bona", wie die Kunstwelt den promovierten Biotechniker nennt, den es in Lichtgeschwindigkeit aus den Sielen der antikolonialistischen grassroots in Neukölln an die Spitze eines der wichtigsten deutschen Kulturinstitute katapultiert hat, so stringent wie zeitbewusst. Denn die kuratorischen Entscheidungen in Arnhem liest man zwangsläufig wie die künftige Handschrift des Mannes, der ab 2023 dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin als Intendant vorstehen wird.

In einem alten Fabrikschuppen am Rande der Stadt widmet der ägyptische Filmemacher Nader Mohamed Saadallah drei melancholische Videos aussterbenden Handwerksberufen: einem Metallschmied, einem Kalligrafen und Teearbeiterinnen. Mae-Ling Lokko und Gustavo Crembil, ein argentinisch-amerikanisches Architektenduo, haben eine Skulptur aus Bausteinen aus fadenförmigen Pilzzellen fünf Meter über der Erde in Sonsbeek aufgehängt. Sie sollen eine biologische Produktion in Gang setzen - ein Symbol für nichtmenschliche Arbeit.

Schwarz-Weiß-Kontrast. In Arnhems "Witte Villa" im Park Sonsbeek breitet das Amsterdamer Kollektiv "The Black Archives" Dokumente schwarzer Emanzipation in den Niederlanden aus. (Foto: Sonsbeek 20-24/ Django van Ardenne/Django van Ardenne)

Doch auch noch so ausgeklügelte kuratorische Essays kommen in Arnhem am Kolonialismus nicht vorbei. In den riesigen Landschaftsparks Sonsbeek und Zijpendaal, in denen die Biennale stattfindet, stehen die prunkvollen Villen der großbürgerlichen Familien, die von der Ausbeutung der niederländischen Kolonien in Indonesien und im südamerikanischen Suriname profitierten. Das Bild idyllischer Kontemplation ist hier die Fassade des Mörderischen. Kein Wunder, dass sich diese Blutspur der Stadtgeschichte als roter Faden durch die Schau zieht. Und wenn es ein Bild gibt, in dem Arbeit und Kolonialismus eindrücklich zusammenkommen, dann ist es Kudzanai-Violet Hwamis und Belinda Zhawis Porträtbild der "schwarzen Anna".

Die Sklavin aus Suriname kam 1729 im Alter von 30 Jahren nach Arnhem. Sie lebte als Magd in der Parkvilla der Familie Brantsen, die in Suriname eine Plantage besaß, nach der sie ihren Namen Anna van Vossenburg bekam. Von dem Leben der Frau ist nicht viel mehr als ein Arztbesuch und ihr Tod im Jahr 178O bekannt. Die beiden Künstlerinnen aus Zimbabwe haben um Annas Kopf Fragmente aus ihrem Leben drapiert: die Verkaufsurkunde als Sklavin etwa. In Soundbites imaginieren sie Episoden aus einem entrechteten Leben, das nichts als Arbeit war und historisch unsichtbar geblieben ist.

Der unnachgiebige Aktivist gegen den Kolonialismus Bonaventure Ndikung ist daran zu erkennen, dass er in einem alten Portierhäuschen Ndidi Dikes Statue "Redressing Lady Justice" platziert hat. Die nigerianische Künstlerin hat ihr das Aussehen einer Afrikanerin gegeben: Symbol der Unterdrückung während der Sklaverei. In ihrer rechten Hand trägt sie eine Machete, Symbol für die brutalen Kolonisatoren. In ihrer linken trägt sie eine schiefe "Waage der Gerechtigkeit". In einer der Schale liegen geplünderte Objekte, in der anderen Figuren versklavter Menschen.

Ein Intendant, der weiß, wo er herkommt, und der scharf denken kann

Und es war gewiss kein Zufall, dass die Biennale an dem symbolträchtigen "Keti-Koti-Tag" (die Fesseln werden brechen) begann. Am 1. Juli wurde 1863 die Sklaverei in Suriname abgeschafft. Amsterdams Oberbürgermeisterin Femke Halsema rang sich dieser Tage zu einer Entschuldigung für das Unrecht der Sklaverei durch, die Regierung in Den Haag zögert noch. Nun streiten die Holländer, ob sie die informelle Tradition zum gesetzlichen Feiertag erheben. In Arnhem dürfte sie viele Argumente für die Idee finden.

Man nimmt es Ndikung aber ab, dass sich nicht der Intendant in spe in vorauseilender Diplomatie übt, wenn er es bei der Aufarbeitung des Kolonialismus ablehnt, einfach nur mit Fingern aufeinander zu zeigen. "Wir sind alle gemeinsam in dieser Geschichte", stellt er auf einer der Rundgänge klar. "Es geht darum, den Prozess der Re-Humanisierung einzuleiten."

In Arnhem ist aber auch der Formalist Ndikung zu entdecken. Im Kröller-Müller-Museum im benachbarten Otterlo widmet er Stanley Brouwn eine stille Hommage. Wegen seines subtilen Minimalismus zählen viele den niederländischen Konzept- und Fluxus-Künstler surinamischer Abstammung zu den wichtigsten Künstlern des 20. Jahrhunderts.

Euphorisch und analytisch. Kurator Bonaventure Ndikung bei einer Ansprache im Arnhemer Sonsbeek-Park. (Foto: Ingo Arend/Ingo Arend)

Das naturwissenschaftlich-ästhetische Doppeltalent Ndikung pflegt einen Hang zum Akademismus. Seine Rhetorik kommt kämpferisch, seine Konzepte oft hermetisch daher. In Arnhem überzeugt er mit einer sinnlichen, poetischen, musikalischen Schau, die aber immer ins Herz der brennenden Konflikte der Gegenwart zielt. Und in dem Kurator selbst fließen diskursive und spielerische Energien auf elektrisierende Weise zusammen. Die Biennale-Pressekonferenz verwandelte er mit seinen Co-Kuratorinnen in ein Kolloquium über essenzielle Arbeit.

Tags drauf rappte er an der Spitze einer schwarzen Brass-Band mit Schiebermütze, tannengrünem Arbeiteranzug und pinkem Lang-Shirt im strömenden Regen durch den Sonsbeek-Park. Als er am Ende des Intermezzos emphatisch "You can't take away the joy from us" rief, befiel einen das Gefühl, dass es nicht das Schlechteste ist, was das HKW in anderthalb Jahren erwartet: ein Intendant, der weiß, wo er herkommt, und der scharf denken kann.

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