Bob Dylan wird 70:Dylan ist nur ein Wort

Seine Musik ist der Soundtrack einer ganzen Generation. Dabei bestehen seine Songs vor allem aus ungelösten Rätseln - aber vielleicht liegt gerade darin das Geheimnis seines Erfolgs.

erinnert sich an ein Leben mit Bob.

Der Greyhound fuhr von Sault Sainte Marie über Wawa, White River, Marathon und Terrace Bay auf der 17 nach Thunder Bay, verließ kurz vor Duluth Kanada, fuhr dann weiter über die Grenze und nach Minnesota, hinein in die USA. Auf der Straße statt Autos Pick-ups, immer zwei, drei Männer vorn nebeneinander, die stur geradeaus sahen, im Rückfenster quer eine Axt, oft auch ein Gewehr. Der Bus fuhr klima- und lärmberuhigt dahin, aber draußen war es ohnehin still. Im Kopf Liedzeilen, manchmal grimmige: "Twenty years of schoolin'/And they put you on the day shift." Das war ich: gerade hatte ich ein Jahr Fabrik hinter mir, geistlose Arbeit, um nach Amerika fahren zu können. Ewig zog sich die Straße am Lake Superior entlang, Wälder, kleine Seen, ein paar Häuser, auch sie wie auf der Durchreise. "An' we gazed upon the chimes of freedom flashing."

Im Bus schliefen die meisten, wachten auf, wenn es Kaffeepause gab oder Mittag und schliefen dann weiter. Der Westen ist groß und weit und hört nicht auf. Dann rappelte sich mein Nachbar doch aus der schaukelnden Schläfrigkeit auf und wollte wissen, wo ich herkäme, was ich in Kanada sehen wolle, was ich überhaupt für einer sei. Seit drei Tagen hatte ich fast nichts gesprochen, nur aus dem Fenster geschaut auf dieses weitgestreckte grüne polarkreisnahe Kanada. Aus Deutschland, ja, aus dem westlichen Teil, und Amerika wollte ich sehen, ganz Amerika, from sea to shining sea. Und weil mein Herz voll war und mein Mund schier überging, klagte ich ihm auch gleich, dass ich Bob Dylan verpassen würde, der zum ersten Mal in Deutschland sei, wo ich es endlich nach Amerika geschafft hatte. Mein Nachbar staunte, stutzte, fragte, den heiligen Namen hatte er anscheinend noch nie gehört. Erst aufs Zweite verstand er und verbesserte mich: Baab Dill'n, wusste aber mit meiner Begeisterung noch immer wenig anzufangen, geschweige denn, dass er mich getröstet hätte. Noch vor der Grenze stieg er aus, wünschte mir alles Gute in meinem weiteren Leben, und natürlich God bless you.

Bob Dylan war das Amerika, das es wahrscheinlich gab, aber von dem man im Internat nur träumen konnte. Aber dieser Dylan hatte in jenem annus mirabilis 1978 gerade zu Gott gefunden. Noch wusste ich nichts davon, nur dass ich ihn verpasste. Seine Stimme, sagten die Böswilligen, die klinge, als käme sie über die Mauern eines Lungensanatoriums. Aber warum trieben seine Gegner diesen Aufwand? In der Schule galt er als einer dieser Langhaarigen, die schon deshalb nicht singen und nicht Gitarre spielen konnten. Nichts also für die Lehrer, alles für uns.

Es war nicht nur die Gitarre, und wie er sie schlug, es war die Mundharmonika, an der er sog, wenn er mit dieser dringlichen Stimme warnte, dass sich auf dem Highway Spieler herumtrieben und man besser aufpasste, oder wenn er sang, dass alles vorbei sei und die Geliebte jetzt am besten gleich ihre Sachen packe oder das, was sie sich zufällig angesammelt hatte.

Kann schon sein, dass ich "It's All Over Now, Baby Blue" zuerst von Them hörte, Van Morrison mit seiner Band, wenn er singt wie Mick Jagger, aber es ist reiner Dylan. "You must leave now", hau endlich ab, befahl er 1965. "Yonder stands your orphan with his gun", und die Waise weint wie Feuer auf der Sonne - . . . oder so? Wir bildeten Banden oder jedenfalls Dechiffriersyndikate, um zu verstehen, was das heißen sollte. Keiner von uns, wozu waren wir schließlich auf dem Humanistischen Gymnasium, hätte nur einen englischen Satz sagen können, aber in geduldigen Sitzungen vor dem Kassettenrekorder, an dem die Starttaste vom immer neuen Versuchen allmählich zerbröselte, wurde mit dem philologischen Ehrgeiz, der beim Nibelungenlied versagt hatte, allmählich enträtselt, wovon "Like A Rolling Stone" handeln mochte oder "Visions of Joanna". Bald gab es die Texte zweisprachig bei Zweitausendeins in der berüchtigten reimgezwungenen Übersetzung von Carl Weissner, aber das machte sie nur noch hermetischer. Unbegreiflich war das, unbegreiflich schön, wenn diese Lieder aus dem zum Schein-Stereo aufgemotzten Lautsprechern kamen.

Gab es Bob Dylan denn überhaupt? Wenn er noch lebte, lebte er irgendwo im Verborgenen, und die behaupteten, ihn doch gesehen zu haben, erzählten Wunderdinge von ihm. Da er sich nicht zeigte, wurde alles gesammelt, was es neben den Platten von ihm gab. Die Biographie von Anthony Scaduto praktisch auswendig gelernt, die Legenden begierig mit aufgesogen. Artikel aus dem Rolling Stone gingen von Hand zu Hand, als wär's Samisdat. "Great White Wonder" kam heraus und "Great White Wonder II", die vielbewisperten Bootlegs, irgendwo im Untergrund entstanden, vertrieben - aber war er das wirklich und nicht doch ein Stimmenimitator?

Reliquien gleich, mussten diese Zeugnisse den ganzen Mann ersetzen, der doch nicht zu haben war, denn er wollte sich einfach nicht zeigen. Ende 1973 dann die Sensation: Er würde auftreten, nach fast acht Jahren ging er wieder auf Tournee, ausverkaufte Häuser natürlich. Eine Platte kam heraus, "Blood On The Tracks", noch rätselhafter, noch schöner als alles, was er je gemacht hatte und ein Kommentar zu dem Versteckspiel mit den Zeitungen, das er übte von Anfang an: "Someone's got it in for me, they're planting stories in the press."

Das große Abenteuer

Klein, so klein war das eigene Leben, und Bob Dylan war das Abenteuer, jedenfalls sang er so unvergleichlich ergreifend von diesem fremden fernen wilden Leben. 1978 dann endlich nach Amerika. "Street-Legal", die neue Platte, war angekündigt, aber noch nicht erschienen. Gudrun Ensslin und die anderen hatten sich im Jahr davor in Stammheim umgebracht. In ihrer Zelle hatte sie Bob Dylan gehört, aber wenn sie nur zugehört hätten, die Idioten, sie hätten sich die ganze RAF und alle Toten erspart: "Everybody is making love / or else expecting rain."

War das wirklich Surrealismus, wie die Kritiker behaupteten? Schon immer kam mir der frühe Dylan wie der beste Brecht aller Zeiten vor, die Abwehrgeste "It Ain't Me, Babe" wie eine Übersetzung von "In mir habt Ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen." Wie Suze Rotolo zuletzt in ihren Memoiren bestätigte, hat sie ihm Brecht zu lesen gegeben, hat ihm die Seeräuber-Jenny und das Schiff mit den acht Segeln vorgespielt, hat das ahnungslose Landei auf links gepolt. Aber was war der deutsche Brecht mit seinen gutgemeinten Holzhammersprüchen gegen einen Aphoristiker, der leaders auf parking meters reimte und empfahl, nicht irgendwelchen Führern zu folgen, sondern ein Auge auf die Parkuhren zu haben?

In Duluth beim Umsteigen kurz gezögert, als ich einen Bus sah, der vorne das Schild "Hibbing" trug. In Duluth wurde er 1941 geboren, in Hibbing, am Ende der Welt und kurz vor Kanada, ist er aufgewachsen. Aber was sollte ich da? "Gutes altes Hibbing", schreibt er. "Ich bin weggelaufen mit 10, 12, 13, 15, 15½, 17 und 18. Bis auf einmal hat man mich jedes Mal erwischt und wieder zurückgebracht." Gelogen natürlich, aber es war, als hätt' er's für mich geschrieben, da ich mich nie traute. Hätte ich doch hinfahren sollen?

In New York, eine Woche vorher, hatte ich in Greenwich Village alle heiligen Stätten abgeklappert, die Lokale, in denen er aufgetreten war, Gerde's Folk City, das Gaslight, The Other End. Überall Zeichen seiner irdischen Gegenwart, nur er nicht. Im Kino lief eben "The Last Waltz" an, das Abschiedskonzert der Band, und Dylan sang die ehrwürdige Hymne "I Shall Be Released". In Albuquerque beim Trampen nahm mich einer mit zu sich nach Hause, gab mir ein bisschen Marihuana, wovon ich fürchterliche Kopfschmerzen bekam. Neben dem Bett lag das Filmbuch zu "Easy Rider". Dylan wollte sich dann doch nicht an dem Film beteiligen und ließ Roger McGuinn sein Lied singen, "It's Alright Ma (I'm Only Bleeding)". In Portland spielte mir ein Hippie eine LP von Richard und Mimi Fariña vor. Mimi war die Schwester von Joan Baez, und Fariña, der mit Thomas Pynchon studiert hatte, war Folksänger geworden, nachdem er angeblich für die IRA und in Kuba gekämpft hatte, hatte einen Roman geschrieben und war mit dem Motorrad tödlich verunglückt.

In Minneapolis fand ich im Laden Larry Slomans Buch über die Rolling Thunder Tour von 1975. Sloman war dabei, hatte erlebt, wie Dylan mit seiner alten Freundin Joan Baez umging, wie Ronee Blakley dazu kam, die neue Favoritin, und dann auch noch Sara, die Hauptfrau.

Als ich ihn drei Jahre später endlich sah, wollte ich sofort aus der Dylan-Kirche austreten. Er schnulzte sich einen ab, ließ drei Sängerinnen mitheulen und wimmerte dazu "Baby, Stop Crying". Musste er mir das antun? Ja, 's ist wahr, an einem Lagerfeuer im Mittleren Westen sang ich nicht allein, sondern mit anderen "Blowin' In the Wind" und dazu die Internationale, die das Menschenrecht erkämpft. Ich schäme mich auch gern dafür, aber was tat er einem auch an? Scheidung, Drogen, Alkohol, weiß der Teufel, das ist alles normal und gehört sich auch so, aber musste er unbedingt auch noch fromm werden? Niemand hat gesagt, dass es leicht sei, ein Fan zu sein. Aber an was soll man in postreligiöser Zeit sonst glauben?

Er beruhigte sich wieder, und ich bin gläubig bis auf den heutigen Tag. Was bin ich ihm nicht nachgefahren über die Jahre: München, Hamburg, Berlin, Bologna (ja, der Auftritt vor dem Papst!), New York. Immer in der Hoffnung auf das beste Konzert meines Lebens. Oft genug hat er mich enttäuscht, noch öfter froh und glücklich, wenn ich dabei sein durfte, wie er sich wieder gefangen hatte. "He not busy being born is busy dying."

Der Tiefpunkt war 2008 in Pamplona. Eine armselige Stadt und, wie sich erwies, nichts mehr von Hemingway. Ein paar Amerikaner waren schon da, bald sollte der Firminstag sein, an dem die Stiere durch die Stadt getrieben werden, an den verbretterten Geschäften vorbei zum Stadion geführt, und die Waghalsigsten vorneweg, das blutrote Tuch um den Hals (gibt's in jedem Geschäft), aber vielleicht doch bald aufgespießt vor den Kameras der ganzen Welt. Bob Dylan sollte in der Plaza de Toros auftreten, aber das Konzert wurde verlegt in eine bessere Scheune am Stadtrand. Der Ton verkrumpelte sich irgendwo im Wellblech und fiel als Gerölllawine von der Decke.

Es war ganz, ganz schlimm. Jedes Konzert kann ein Absturz sein, es kann aber auch das schönste sein. Wie das in Taormina. Das ganze Römergriechentum der Schule hatte auf einmal einen Sinn, denn er trat auf im Teatro Greco hoch über dem Meer, über Skylla und Charybdis, sang mit seiner fast ermordeten Stimme ein frommes Lied, lobte die Hand des Herrn. Sagte ich schon, dass es fast vollkommen dunkel war, nur drüben am Ätna brodelte und kochte es, explodierte der Vulkan und ergoss sich rotglühend über die Weinberge hinab zum Meer. Dylan sang seine Liebeslieder, sang "The Times They Are A-Changin'", pries die Frauen, alle Frauen von Hattie Carroll bis zur süßen Marie und tanzte sogar ein bisschen in seinen unglaublich spitzen Schnabelschuhen.

Mit siebzig ist Bob Dylan hochgeehrt, hat den Pulitzerpreis, den Oscar und jeden anderen Bembel gekriegt, der je geschnitzt, geschmiedet, oder mundgeblasen wurde. Noch immer ist er keiner von uns, und wer könnte auf ihn bauen? "Hör doch endlich auf!" rufen sie ihm zu, und wieder: "Diese Stimme!" Aber er hört nicht auf. Er spielt weiter, überall, zuletzt war er auf seiner Tour in China und Vietnam. Am 24. Juni tritt er in Sursee in der Schweiz auf, am 25. in Mainz und am 26. Juni ist er in Hamburg. Ich bin dabei.

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