Bob Dylan:Bob Dylan triumphiert mit fremden Songs

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Als Sänger nicht ganz so großartig wie als Konzeptualist: Bob Dylan bei einem Konzert in Benicàssim (Spanien) im Jahr 2012. (Foto: dpa)

Man könnte sein neues Album "Fallen Angels" für eine Sammlung von Coverversionen halten. Aber es ist viel mehr als das.

Albumkritik von Diedrich Diederichsen

Wenn zu seinem 75. Geburtstag am 24. Mai "Fallen Angels", das neue Werk von Bob Dylan, erscheint, wird man wieder allerorten lesen können, es handle sich bei diesem, wie auch schon bei seinem letzten Album "Shadows in the Night", um eine Zusammenstellung von Coverversionen. Das ist irreführend.

Eine Coverversion ist eine neue Aufnahme eines Songs, der bereits durch eine markante Aufnahme und Interpretation geprägt ist, der zu einem Künstler gehört und in den meisten Fällen von diesem nicht nur gesungen, sondern auch geschrieben wurde. Die Coverversion bezieht sich auf diese Fassung und setzt ihr etwas entgegen oder verbeugt sich imitierend vor ihr. Sie ist weniger eine Interpretation des hingeschriebenen Teils des Songs, sondern die Interpretation einer Interpretation, einer aufgezeichneten Interpretation.

Bob Dylan hat für "Fallen Angels" (Columbia) aber Songs aus dem so genannten Great American Songbook aufgenommen, also Lieder aus einer Phase der populären Musik, als diese noch überwiegend vom Verkauf von Kompositionen und Partituren lebte und der Erfolg eines Songs sich nicht zuletzt danach bemessen ließ, wie viele Künstler ihn interpretierten. Diese Sänger der Dreißiger- und Vierzigerjahre waren denn auch fast nie ihrerseits Autoren, die Arbeitsteilung war noch intakt: Was sie lieferten, war ein Können, das Beherrschen eines stimmlichen Faches, manchmal eine Masche, ein Markenzeichen - doch niemand kam auf die Idee, dass sie von sich selbst erzählen könnten. Oft wurde auf dieselben Themen auch noch von Jazzern zurückgegriffen, die darüber instrumental improvisierten, dabei die Bekanntheit der Melodie als Sprungbrett für deren effektive Bearbeitung nutzend.

Sinatras Version ist keineswegs immer die definitive

Nun hat Dylan sich aber bei "Shadows in the Night" (2015) nicht einfach nur auf die Songs, sondern schon auch auf deren Aufnahmen durch Frank Sinatra bezogen - und damit genau jene pophistorische Wende ins Visier genommen, als einzelne Sänger anfingen, doch definitive Versionen in die Welt zu setzen. Sinatra gelang das einige Male, auch wurden Songs häufiger direkt für ihn geschrieben. Die Songs auf "Fallen Angels" sind ebenfalls alle, bis auf einen ("Skylarking"), irgendwann von Frank Sinatra aufgenommen worden.

Doch keineswegs ist Sinatras Version immer die definitive: Diesmal sind überwiegend Lieder dabei, die man eher anderen Interpreten zuordnen würde, wie etwa den fabulösen Mills Brothers, die berühmt waren für ihre vokalen Imitationen von Blasinstrumenten. Deren Interpretationen hatten schon ein gutes Jahrzehnt auf dem Buckel, bevor Sinatra sich der Lieder annahm, die dann in seiner Diskografie auch eher ein Nebenwerk blieben.

Dylan ist also hier einem Prinzip von populärer Musik nahe, das nicht zuletzt auch durch seine Arbeit und durch von ihm inszenierte Innovationen vor gut 50 Jahren verschwunden ist. Schließlich war er es (mit einigen Mitstreitern wie den Beatles, später Leonard Cohen, Neil Young, Lou Reed), der im Verlauf der Sechzigerjahre die Zusammengehörigkeit eines Songs mit einem Interpreten, der meist auch der Autor war, als neues Prinzip durchsetzte. Dabei kam Dylan ursprünglich von einem Typus Musik, der nicht so sehr durch seinen Interpreten, nun aber auch nicht durch einen Komponisten, sondern von einem Gegenstand, einem Inhalt bestimmt war: den so genannten Topical Songs zwischen Folk, Arbeiterbewegung, Blues und Gewerkschaftskultur.

Dylan lässt sich nun fast masochistisch Ton für Ton genau vorgeben, was er zu tun hat

Sie waren dafür gedacht, dass sie ein politisches Thema bekannt machten, es emotional aufluden und bei öffentlichen Veranstaltungen eingesetzt werden konnten. Einige dieser Songs sind zwar mit den von Dylan verehrten Vertretern der US-amerikanischen Linken wie Woody Guthrie ("Song to Woody"), Leadbelly, Pete Seeger oder Cisco Houston verbunden, aber gedacht waren sie für den politischen, nicht den persönlichen Gebrauch.

Es ist also so, als würde Dylan, der nach einer Topical-Phase auf seinen ersten vier Alben (1962-64) und vielen individualistischen Perioden danach, in denen er gewissermaßen das Persönliche als Topic entdeckte und entwickelte, nun die dritte Möglichkeit von Songkultur erkunden, die kurz vor seiner aktiven Zeit ihren Höhepunkt hatte: Songs, die zum musikalischen Gebrauch durch andere komponiert wurden.

Große Meister dieser Kultur wie etwa Hoagy Carmichael, Harold Arlen oder Irving Berlin sind auch von der späteren Pop-Musik, etwa von performenden Historikern wie Leon Redbone oder Geoff Muldaur, immer mal wieder gewürdigt worden. Eine Band wie Dan Hicks & His Hot Licks leitete nostalgisch beschwingte, durchaus auch ironisch gebrochene Befreiungsvorstellungen aus der Eleganz von Dreißiger- und Vierzigerjahre-Songs ab.

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Ganz anders der aktuelle Dylan, der eher gedämpft, behutsam, etwas klaustrophil und allenfalls listig und verschmitzt mit dem betagten Material umgeht. Kleine Ensembles, mit Geigen, Mandolinen, aber auch elektrischen Instrumenten, spielen keinen Ton, der nicht im Notenheft steht. Dylan zelebriert, manchmal charmant an den fordernden Tonhöhen scheiternd, Klassiker wie "Polka Dots & Moonbeams" als fragile Kabinettstückchen.

Nach einem guten Essen hat der Patriarch in das reich dekorierte Herrenzimmer gebeten, um noch einen guten Brandy zu kredenzen. Das ist in etwa die nicht ganz unsteife Stimmung des Albums: zart, anrührend, nicht völlig humorlos, aber auch etwas gezwungen.

Dylan triumphiert schließlich auch wieder fast mehr als Konzeptualist denn als Musiker oder Sänger

Dabei ist er seinem Genie treu geblieben, seinen Weg über große Selbstnegationen zu steuern. Die Songs des Great American Songbooks sind ja nicht nur Antithesen zur personenorientierten Singer/Songwriter-Kultur und zur gegenstandsorientierten Tradition des Topical Songs, sie sind vor allem in ihrem Insistieren auf musikalische Genauigkeit und Werktreue das Gegenteil dessen, was Dylan auf seiner "Never Ending Tour" in den letzten Jahrzehnten praktiziert: die Idee, dass es bei seinen Songs nun so gar nicht um irgendwann mal festgelegte Melodien gehe, sondern um Lyrics, mit denen er jedes Mal aufs Neue machen könne, was er wolle. Hier aber lässt er sich nun fast masochistisch Ton für Ton bis an die Grenzen der 75-jährigen Stimme genau vorgeben, was er zu tun hat - und triumphiert schließlich auch wieder fast mehr als Konzeptualist denn als Musiker oder Sänger, weil er auch mit diesen Exerzitien etwas Spezielles anzufangen weiß.

Was ist dieses Spezielle? Vielleicht das Gefühl, dass hier ein ganz großes Geheimnis, ein entwendeter Brief in dem für alle sichtbaren, bekannten und kanonischen Material zu finden ist. In der leicht verschmunzelten, pedantischen Akkuratesse, mit der sich das brüchige Altersorgan des Erfinders der Stimmindividualität durch diese als Kleinode inszenierten Themen des 20. Jahrhunderts pflügt, entdecken wir den Wert jenes Insistierens per se, eine Schönheit von Eigensinn, Konsequenz und eben auch Altersstarrsinn - wenn nämlich diese Verfallsprodukte von Individualismus durch eine große und von außen kommende Aufgabe geadelt werden: Amerika, das 20. Jahrhundert, Frank Sinatra, Hollywood und Jazz.

Der Autor, Jahrgang 1957, ist Kulturwissenschaftler, Kritiker und Hochschullehrer. Er gilt als einer der wichtigsten deutschen Poptheoretiker.

© SZ vom 20.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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