Süddeutsche Zeitung

"Bloody Nose, Empty Pockets" im Kino:Allerletzte Runde

Der Independent-Film "Bloody Nose, Empty Pockets" ist ein Liebeslied an die amerikanische Bar um die Ecke, dokumentarisch und fiktional zugleich.

Von Sofia Glasl

Melancholie und Galgenhumor liegen selten so nah beieinander wie in einer durchzechten Nacht. Das weiß auch der Besitzer des "Roaring 20s", einer in die Tage gekommenen Cocktailbar irgendwo in Las Vegas. Deshalb lächelt er auch nur fürsorglich, als das Telefon klingelt und der Arbeitgeber von Stammgast Ira fragt, wo sein Mitarbeiter bliebe. Der hängt am Tresen und kann sich gar nicht daran erinnern, dass er einen Job hat.

Eigentlich wollte er nur diesen allerletzten Tag noch mal in der Bar verbringen, denn sie wird schließen. Am Abend ist eine Abschiedsparty geplant. Die Kundschaft kichert, und der Barkeeper füllt Iras Getränk in einen Becher to go um. Hier wissen alle, dass der Laden von ihren verkrachten Existenzen lebt. Er sei stolz darauf, erst mit dem Trinken angefangen zu haben, nachdem er sein Leben ruiniert hatte, stellt ein anderer Gast fest. Die Bar treffe keine Schuld.

Sie alle hat die Gesellschaft auf die eine oder andere Weise hängen lassen. "Bloody Nose, Empty Pockets" nennt das amerikanische Brüderpaar Bill und Turner Ross seinen Film über den Blick in ihre Welt. An der Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm haben die beiden in einer realen Bar mit realen Trinkern gedreht. Allerdings sind nur die wenigen Außenaufnahmen in Las Vegas entstanden, die Kneipe befindet sich eigentlich in Louisiana - auch heute noch. Der Handlungsbogen nämlich ist erfunden, der Rest improvisiert. Doch das vermeintlich nahende Ende spitzt vieles zu, das sonst vielleicht ungesagt bliebe in dieser Zweckgemeinschaft.

Es geht um vertane Chancen, gewonnene Freundschaften und immer wieder um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Michael, ein gescheiterter Schauspieler, erzählt von seiner Arbeitseinstellung, die zum Lebensmotto wurde: "Ich wollte immer die Wahrheit in jeder Textzeile finden, aber als ich feststellte, dass die Wahrheit nicht greifbar ist, habe ich angefangen, nach Schönheit zu streben."

Die Schönheit des Scheiterns finden die Filmemacher an diesem Ort, der sich seiner Tragikomik bewusst ist und diese offen zur Schau stellt. Jeder Gast ist eine Show für sich. Hier sitzen Veteranen neben Frauen, deren Jungen nicht aus dem Irakkrieg wiederkamen, Kleindarstellerinnen neben Lebenskünstlern, und einen nennen sie nur Einstein, denn er sieht dem Physiker zum Verwechseln ähnlich. Der Teenie-Sohn einer Barfrau muss immer wieder auf eine Cola vorbeikommen, damit sie weiß, dass es ihm gut geht.

Die Schließung der Bar ist für die Stammgäste eine Tragödie

Wo die langsamen und oft wortkargen Dokumentarfilme von Frederick Wiseman die soziale Bedeutung von öffentlichen Einrichtungen wie der New York Public Library oder der Londoner National Gallery betrachten und ihnen so ein lebendiges Denkmal setzen, singen die Gebrüder Ross ein beschwipstes Liebeslied an Bars und Spelunken als kulturelle Institution. Die ist gleichermaßen ein realer und fiktionaler Raum, Fluchtpunkt und Ersatzfamilie für sie alle. Deshalb tut das Quasidokumentarische des Films der Authentizität dieses Ortes keinerlei Abbruch, ganz im Gegenteil. Die Realität bahnt sich hier eben in Form von Melancholie und Galgenhumor ihren Weg.

Der Film ist zugleich eine Ode an die oft vergessene Fähigkeit des Kinos, die es mit Kneipen, Bibliotheken und Museen verbindet: Sie sind Kommunikationsorte, die von der persönlichen Begegnung leben. Die mag manchmal zu blutigen Nasen und leeren Taschen führen, aber sie wirkt immer der Einsamkeit entgegen. Als der Barbesitzer seine Gitarre zückt, Roy Orbisons Schnulze "Crying" zum Besten gibt und die ganze Bar einstimmt, ist deshalb auch nicht ganz klar, ob sie um die Kneipe weinen oder um die hier vergeudete Lebenszeit: "I was alright for a while, I could smile for a while. I thought I was over you, but it's true so true, I love you even more than I did before." Diese Bar und dieser Film, sie sind nicht nur ein tröstliches Fenster in die Welt, sondern auch in die Seele derer, die sich ihnen ausliefern - vor der Kamera, der Leinwand oder dem Tresen. Ihre Schließung: eine Tragödie. Zum Glück ist sie diesmal nur erfunden.

Bloody Nose, Empty Pockets, USA 2021 - Kamera und Regie: Bill und Turner Ross. Mit Peter Elwell, Michael Martin, Shay Walker. Verleih: UCM.ONE, 99 Minuten. Kinostart: 2.12.2021.

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