Süddeutsche Zeitung

Blog:Die Seuchen der Moderne

Dass die Jetztzeit mit ihrer Technikeuphorie krank mache, gilt als typisch für die Moderne. Dabei war das vor 100 Jahren im viktorianischen England schon ganz genauso, wie ein Blog dokumentiert.

Von Bernd Graff

Die Briten des 19. Jahrhunderts fürchteten die Konsequenzen neuer Technologien des Industriezeitalters wie Eisenbahn und Telegramm für den Menschen und sein soziales Leben in ähnlicher Weise, wie wir es heute (wieder - immer noch?) tun: Körper und Geist könnten, so die dystopische Erwartung, mit den viel zu rasant aufeinander folgenden Neuerungen und Anforderungen der modernen Welt nicht mehr Schritt halten. Der Mensch werde asynchron zu seinen Zeiten. Diese Sorgen um eine krank machende Moderne zu dokumentieren, haben Historiker der Universität von Oxford ein vorzügliches Blog im Internet aufgesetzt, das die erlebten Stresssymptome der Viktorianer medizinisch, kulturell und literarisch untersucht und auflistet. (https://diseasesofmodernlife.org)

Das Projekt, das übrigens (noch) mit Mitteln des European Research Councils (ERC) gefördert wird, zeigt so erstaunliche Geräte wie das "Ammoniaphone", das ein gewisser Dr. Carter Moffat ersonnen hatte. Der Chemie-Professor wollte ernsthaft "hoch konzentrierte, künstlich italianisierte Luft" damit in eine portable Form bringen. Denn der Mann hatte entdeckt, dass - erstens - die Luft in Italien viel besser war als im heimischen, sich heftig industrialisierenden Glasgow. Und dass - zweitens - Italien so viel bessere Sänger hervorbringt als Schottland. Also dachte er sich, er könne mit der künstlichen Italien-Luft aus seinem Ammoniaphone die verstärkt auftretenden Krankheiten Asthma, Husten, Bronchitis, Heiserkeit in der Heimat bekämpfen. Zu den neu und gleich gehäuft auftretenden Zivilisationskrankheiten zählten dann die "Lady Cologne Drinkers", jene teilweise aus der Londoner Society stammenden Eau de Cologne-Trinkerinnen des späten 19. Jahrhunderts, die das Parfüm entweder auf Ex aus der Flasche oder moderater auf Zuckerwürfel geträufelt zu sich nahmen. Des weiteren wird in verschiedenen Publikationen immer wieder mahnend der Fall jener Lady "picked up on Broadway" erwähnt, einer Dame aus bester Gesellschaft, die im Morphium-Rausch auf der Straße zusammengebrochen war. Man berichtet von überarbeiteten Angestellten, die sich spät abends im Büro alleine betrinken, und von Eltern, die keine Zeit und Kraft zur Erziehung ihrer "verdorbenen" Kinder mehr haben. Dieses Blog ist eine Fundgrube für Modernisierungsängste aller Art, das den wunderbaren Anfangssatz von Charles Dickens' "A Tale of Two Cities" zu paraphrasieren scheint: Diese Zeiten, die alles und nichts mehr vor sich hatten, belegen eine Epoche, die ziemlich genauso war, wie unsere jetzt ist.

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Quelle:
SZ vom 05.07.2016
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