"Blauwal der Erinnerung":Nur die Einzelheiten zählen

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Tanja Maljartschuk versucht sich in ihrem Roman am Leben des ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj. Der Politiker und Philosoph, der 1931 starb, warb vehement für einen ukrainischen Staat.

Von Nico Bleutge

Die Erinnerung ist ein Allesfresser. Nebensächliche Details verwahrt sie genauso wie einschneidende Erlebnisse, große Gedanken genauso wie die unterschiedlichsten Arten von Gefühlen. Kein Wunder, dass die Dichterin Emily Dickinson die Erinnerung einmal eine "seltsame Glocke" genannt hat, von der beides ausgehen kann, Jubelklang und Totengeläut. Der Titel des Romans der Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk legt nahe, man könne die Erinnerung sogar als Blauwal bezeichnen. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, es ist gar nicht die Erinnerung, sondern die Zeit, die hier in Form eines Wales auftaucht. Dieser Zeit-Wal verschluckt alles, die Erzählerin und andere Menschen mit ihren Ängsten, Gedanken und eben Erinnerungen, Milliarden "winziger, kaum sichtbarer Welten", die sich vermischen.

"Es ist wie der Sturz in einen bodenlosen, senkrechten Schacht"

Deshalb ist das Erinnern nicht nur ein "Luxus" für die Erzählerin, sondern auch eine Aufgabe, eine lebensnotwendige, wie sich herausstellt. Diese Erzählerin ist eine junge Schriftstellerin, die geradewegs in eine existenzielle Krise hineinschlittert. Sie selber nennt sich "Manipulatorin von Worten und Ideen". Doch schon seit Längerem haben die Wörter keine Bedeutung mehr für sie, ein alles verschlingendes Gefühl von Sinnverlust hat sich breitgemacht, begleitet von Herzrasen, Atemnot, Übelkeit. Um sich vor den Panikattacken zu retten, um der "Spurlosigkeit des Verschwindens" etwas entgegenzuhalten, setzt sie sich der Erinnerung aus und beginnt die Suche nach einer "neuen Wahrheit". Anfangs ähnelt die Erinnerung einem Sog: "Ich konzentriere mich und falle in ein Delirium. Es ist wie der Sturz in einen bodenlosen, senkrechten Schacht, wo nichts ist, an dem ich mich festhalten kann."

Man mag bei diesem Satz an Hegel denken, der die Erinnerung einen "nächtlichen Schacht" genannt hat. Erinnerung bedeutet demnach nicht nur, sich ein früheres Erlebnis zu vergegenwärtigen, Erinnerung gleicht einem Insichgehen, das Vorstellungen bewusst macht, verändert, bisweilen überhaupt erst formt. Und auch die Erzählerin begreift das Erinnern als aktives Geschehen. Wobei es in ihrem Fall weniger die Erinnerung an eigene Lebensmomente ist als die Erinnerung an eine historische Figur. Die Erzählerin entdeckt sie beim Blättern in alten Zeitungen. Dieser Wjatscheslaw Lypynskyj starb 1931, in der ukrainischen Presse wurde groß berichtet, rührende Nachrufe von seinen Feinden, die ihn wahlweise als Einsiedler oder verrückten Tuberkulosekranken beschrieben.

Tatsächlich war Lypynskyj - Politiker, Philosoph und Historiker gleichermaßen - zu seiner Zeit einer der glühendsten Apologeten eines eigenständigen ukrainischen Staates. Obwohl er selbst Pole war, ein Adliger zumal, setzte er sich mit aller Kraft für das Ukrainische ein, eine Sprache, die in seiner Jugend noch verboten war und von ihren Gegnern verächtlich als "dörflicher Dialekt" bezeichnet wurde. Die polnische Variante seines Namens, Wacław, lehnte er stets ab, ließ sich ukrainisch Wjatscheslaw nennen. Eingeklemmt zwischen Russland und Kakanien rieb er sich in seiner missionarischen Tätigkeit auf, ein "mit dem Virus der verdienstvollen Arbeit für die Ukraine infizierter Schwindsüchtiger", wie es einmal heißt. Eine unglückliche Ehe und fehlende Unterstützung durch die Familie taten das Ihrige. Der Siegeszug der Bolschewiki und die eigene Erkrankung ließen ihn schließlich aufgeben.

Wie erzählt man von einer solchen Figur? Wie macht man sie in der Sprache lebendig? Tanja Maljartschuk versucht eine Parallele zwischen ihrer Erzählerin und Lypynskyj zu konstruieren. "Meine Geschichte mithilfe seiner Geschichte" - so will sie "den Geschmack der Zeit wahrnehmen" und Ähnlichkeiten in Geschichten, Erlebnisweisen und Ängsten ausfindig machen.

Die Angst könnte sich auch der Tragödie ihrer Familie und ihres "Volkes" verdanken

Eigentlich ist es eine schöne Idee, die Entwicklung eines eigenen ukrainischen Staates mitsamt den Bruchstellen und Verwerfungen, die mit der Vorstellung einer Nation verbunden sind, mit der Wiedergewinnung eines seinerseits hochlabilen Ichs zu verknüpfen und das eine im anderen zu spiegeln. Aber leider gelingt es Tanja Maljartschuk nicht, einen genaueren Zusammenhang zwischen Lypynskyj und ihrer Erzählerin herzustellen. Die Verbindung bleibt beliebig. In einem Interview hat sie vor Kurzem erklärt, die Angst ihrer Erzählerin könne nicht nur eine private sein, sondern sich auch der Tragödie in der Geschichte ihrer Familie und ihres "Volkes" verdanken: Enteignungen, Unterdrückung, der von Stalin Anfang der 30er-Jahre organisierten großen Hungersnot oder der Geschichte der aufständischen Armeen in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Doch diese Theorie kollektiver Traumata wird im Roman nicht einmal annähernd herausgearbeitet.

"Ich liebte es, ins Detail zu gehen", sagt die Erzählerin an einer Stelle. Das erinnert entfernt an Nabokovs Diktum "Nur die Einzelheiten zählen", das er in "Erinnerung, sprich" formuliert hat. Und tatsächlich hat der Roman seine Stärken, wo Maljartschuk auf die unberechenbare Eigenkraft der Erinnerung setzt und die "atemberaubenden Einzelheiten", die sie immer wieder beschwört, zu intensiven Szenen und Atmosphären verbindet. Etwa wenn sie unterschiedliche Arten von Wind beschreibt, die Lypynskyj am Geruch erkennen kann. Wenn sie jenes Bergsanatorium in Zakopane, in dem er von seiner Krankheit genesen soll, als eine Art Mini-Zauberberg skizziert. Oder wenn sie über den Großvater der Erzählerin schreibt. Als der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Musterung den Idioten mimt, wird er nach Tscheljabinsk in die Rüstungsindustrie geschickt. Dort muss er Glocken, die aus der ganzen Sowjetunion herangekarrt werden, zu Waffen einschmelzen.

Nur begnügt sich Maljartschuk nicht mit der Liebe zu den Details. "Es fiel mir schwer, zu verallgemeinern", lässt sie die Erzählerin sagen. Doch das stimmt leider nicht. Das Verallgemeinern ist vielmehr das eigentliche Problem dieses Buches. Ein ums andere Mal, oft mitten in einer wahrnehmungsintensiven Szene, zieht Maljartschuk den erzählerischen Fokus auf und greift voraus. Da erlebt man als Leser den Versuch eines ersten Kusses zwischen Lypynskyj und seiner zukünftigen Frau - und das endet in den Sätzen: "In seinem ganzen Leben hatte Lypynskyj keinen schwerwiegenderen Fehler gemacht. Alle weiteren Fehler waren eine Folge dieses einen." Wie aus dem Nichts ploppen Abstraktionen oder stark raffende Passagen in privaten Erzählungen und zeitgeschichtlichen Ereignissen auf. Das ist nicht nur spannungstötend, sondern untergräbt auch den Anspruch des Romans auf historische Genauigkeit.

Wo sie sich auf Fotos und Dokumente beruft, wird Geschichte dreidimensional

Noch störender sind die metaphorischen Schrägflächen, die das Buch durchziehen. Da gibt es parfümierte Formulierungen wie "vom heißen Schweiß nasse Bögen Papier" oder "in der Luft lag ein Geruch von Geheimem, Süßem, Anziehendem". Die Erzählerin glaubt, sie "wurde mit einem großen Ballon im Inneren gebo-ren, der mit Freiheit gefüllt war", dann wieder bekennt sie mit Lypynskyj: "Wie durch ein endloses Gefängnis gehe ich durch mein Selbst". Dazu der Versuch, zeitgeschichtliche Atmosphären mit Wie-Vergleichen zu fassen: Die Freiheitseuphorie im Februar 1917 verbreitet sich hier "wie ein gefährlicher, berauschender Bazillus", und die Emigranten im Wien der Nachkriegszeit sammeln sich "wie Abwasser in der Donau". Und die Zeit selbst? "Vielleicht ein hängender Fels, und das menschliche Leben ist ein verkümmerter Baum, der darauf Wurzeln schlagen will? Ein flackerndes Feuer, das die endlose Dunkelheit durchdringt? Ein einsamer Aufschrei in der trägen Stille?"

Spiegelfigur: Der ukrainische Publizist und Politiker Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931). (Foto: wikipedia commons)

Das ist schade, nicht nur weil die Übersetzerin Maria Weissenböck den Roman in ein gut lesbares Deutsch verwandelt hat, das Ironie und Emphase klug vereint. Sondern auch, weil Tanja Maljartschuk dort, wo sie sich auf Fotos und Dokumente beruft, immer wieder ihrem Anspruch gerecht wird, Geschichte "dreidimensional" werden zu lassen. An diesen Stellen ahnt man, welche Kraft der historische Roman haben könnte, dem Film und den "History Channels" des Fernsehens, aber auch der Geschichtswissenschaft ein anderes Bild von Geschichte entgegenzusetzen.

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 31.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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