Jetzt also Pilze. Ernsthaft: Pilze als Konzept, Pilze als Thema, Pilze als Textinhalt. Dazu Klarinetten. Posaunen. Rhythmusspuren, die eher nach Bretterverschlag klingen als nach Viervierteltakt. Und in den Videos Masken und Kostüme wie aus einem Cronenberg-Horror-Film. Gut, man hat sich daran gewöhnt, dass Björk gern die ungewöhnlichen Wege geht, und dass sie das mitunter auch sehr demonstrativ tut. Das Schwanenkostüm auf dem roten Teppich in Cannes, die Fitzel-Fatzel-Experimente mit immer noch jüngeren, noch hipperen Techno-Leuten, die Live-Auftritte, mit der Zeit mehr Kabuki-Theater als Konzert.
Aber um das gleich mal zu sagen: Es ist selbstverständlich großartig, dass Björk Guðmundsdóttir, inzwischen 56, mit ungebrochener Energie genau das macht - Grenzen dehnen, Grenzen überschreiten, Grenzen sprengen. Wer will das denn heute sonst noch? Wer wagt denn was? Jeder zweite Popstar behauptet ständig, "ich erfinde mich völlig neu" - und ändert dann doch nur die Haarfarbe. Björk dagegen baut sich immer wieder neue Fenster, nur um sich immer noch weiter hinauszulehnen. Dass sie dabei manchmal ein bisschen in der Luft hängt: liegt in der Natur der Sache.
Ihre Musiker haben Steel Drums halb im Erdboden vergraben, damit der Klang der Erde in die Musik hineinwirkt
Sie konnte auch ganz schön nerven in den vergangenen Jahren. Ihr bahnbrechendes Debüt "Debut" erschien vor 29 Jahren, Techno plus Island-Pop plus Alien-Charme. Sehr eigen, sehr groß. Danach wurden ihre Musik und ihr Auftreten mit jedem Album verkopfter, verkünstelter, abgehobener. In manchen Phasen ihres Schaffens fühlte man sich underdressed, wenn man als Hörer keine dicke Hornbrille trug.
Jetzt nähert sie sich der Erde wieder ein wenig. Auch inhaltlich. Björks zehntes Album heißt "Fossora", der Titel soll zu verstehen sein als weibliche Form des lateinischen Worts Fossor, der Gräber. Die Künstlerin also als Grabende, Buddelnde, Suchende. Stichwort: Pilze. Dazu kommen wir gleich.
Erst mal wird "Fossora" allenthalben vorsichtig als "zugänglicher" bezeichnet, von einer "Rückkehr zum Pop" ist gar die Rede. Es ist trotzdem zu früh, die Tanzschuhe, die seit "Debut" im Schrank stehen, rauszuholen. Wenn Björk im dritten Stück minutenlang Sample-Schnipsel ihrer Stimme rumschiebt, klingt das wieder eher nach Tonband-Avantgarde der Siebzigerjahre, man will intuitiv nach dem Programmheft greifen. Aber direkt danach, in den warmen, pastoralen Chorsätzen von "Sorrowful Soil" macht sie das Gleiche dann einfach noch mal in richtig: keine Sample-Schichtereien, sondern Gesang, schmachtend und umarmend. Das Lied ist eins von zweien, die ihrer verstorbenen Mutter gewidmet sind: "You did well / you did your best / you did well". Man möchte jeder Mutter wünschen, dass ihre Töchter ihr das eines Tages hinterhersingen, oder?
Den Bezug zur Familie, zur Herkunft hat Björk wiederentdeckt, weil sie während der Lockdowns zeitweise zurück nach Island gezogen ist. Da war sie in den dreißig Jahren davor nur sporadisch vorbeigekommen. Die Lieder dieses Albums sind dort entstanden. Sie habe sich dabei wieder ein bisschen geerdet, erzählt sie in Interviews. Zurück zur Natur. Pilze findet sie entsprechend ernsthaft spannend, als Gewächse, als Lebensform, als Metapher. Sie vereinten, sagt sie, "die Themen Überleben, Tod und ökologische Meditation". Im Stück "Fungal City" (Pilzstadt) singt Björk "We walk on this forest floor / sunken mystery / trunks bursting through the moss / from our love". Der Waldboden, das Moos und von da aus direkt hinein in die Liebe, ins Herz, in den Menschen.
Die Musik dazu bezeichnet Björk als "Biological Techno". Für eins der Stücke haben ihre Musiker sogar eigens Steel Drums halb im Erdboden vergraben und dann dort gespielt, damit gewissermaßen der Klang der Erde in die Musik hineinwirkt. (Erinnert ein bisschen an Lee Scratch Perry, der einst in Jamaica die Tonbänder seines Aufnahmegeräts mit dem Rauch seiner Joints vollpustete, damit auch wirklich der richtige Spirit in die Musik usw.)
Nach Pop im herkömmlichen Sinne klingt das jedenfalls nicht mal mehr in der Zusammensetzung. Unterstützen lässt sich Björk von zwei indonesischen Techno-Produzenten und einem Bassklarinetten-Sextett. Die Klarinettisten bat sie, sich beim Spielen vorzustellen, sie hätten genau eineinhalb Gläser Rotwein getrunken, in einer nordskandinavischen Jazz-Bar im Jahr 2050. Auch dabei: ihr Sohn Sindri (36 Jahre alt - mit ihm im Bauch, hochschwanger und halbnackt, tanzte Björk in den Achtzigerjahren bei ihrem ersten Skandalauftritt im isländischen Fernsehen) und ihre Tochter Ísadóra (aus der Beziehung mit dem New Yorker Künstler Matthew Barney; das traumatische Ende dieser Beziehung hat Björk 2015 mit dem Album "Vulnicura" verarbeitet).
Und über allem dann wieder das einmaligste aller Instrumente, ihre Stimme. Niemand singt wie Björk, niemand juchzt wie Björk, niemand schmettert wie Björk. Komplettes Alleinstellungsmerkmal seit fast vierzig Jahren, seit ihren Anfängen als Sängerin der Sugarcubes. Quieken, hauchen, überschnappen. Ihre Stimmbänder beherrscht Björk wie andere ihre E-Gitarre - inklusive all der Effekte, die Gitarristen nur mit Verstärkern und Pedalen hinkriegen. Sie versteht sogar, wie man Akzent gezielt einsetzt: Nach all den Jahren, die sie schon in England und Amerika lebt, kann sie die englischen Texte ihrer Lieder natürlich geschmeidig aussprechen, aber bei einem Wort wie "bloodred" rrrrollt sie das R so nordisch, so wikingerwild, dass das Blut doppelt rot leuchtet.
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Die Melodien bleiben weiterhin eher spröde, in Radiogefälligkeit will sie erkennbar nie wieder zurück. Aber nach und nach finden sich auf "Fossora" Lieder, die einen ein bisschen mehr willkommen heißen als die der vorherigen Alben. "Freefall" ist eine zarte Meditation mit Streichquintett. "Fagurt Er í Fjördum", Björks Version eines isländischen Volkslieds, schwelt verträumt dahin (jetzt bloß alle Vergleiche mit Geysiren-vor-dem-Ausbruch vermeiden). Und im vergleichsweise harmonischen "Ovule", dem vielleicht schönsten Lied des Albums (Posaunen!), ist Björk am ehesten wieder an dem Punkt, wo ihre Musik klingt wie an der Küste in den Wind gesungen, majestätisch und impulsiv und wetterfest.
Der Text dazu behandelt, wie sie selbst sagt, die Idee, jeder Mensch trage in sich drei "Eier", gefüllt mit "Idealen, Realitäten und Finsternis".
Als naturmystizistisches Projekt will sie "Fossora" trotzdem auf keinen Fall verstanden wissen. Bei aller wiederentdeckten Freude an der isländischen Muttererde - einem amerikanischen Magazin sagte sie neulich erfrischend genervt: "Von wegen Elfen und der ganze Scheiß, das wollen die Leute mir schon meine ganze Karriere über anhängen." Also Erde schon, Pilze auch, Island sowieso gern - ansonsten aber bleibt die Frau unseren weltlichen Vorstellungen und Projektionen weiterhin wunderbar entrückt. Planet Björk, einsam und einmalig, ganz weit da draußen. Schön, dass die Umlaufbahn dieses Mal immerhin so nah an der Erde vorbeiführt.