"Birdman" im Kino:Bis aufs Blut gequält

"Birdman" im Kino: Ein Mann hebt ab, verlässt die Niederungen des Blockbuster-Kinos und entschwebt zu Höherem: Michael Keaton als Riggan Thomson.

Ein Mann hebt ab, verlässt die Niederungen des Blockbuster-Kinos und entschwebt zu Höherem: Michael Keaton als Riggan Thomson.

(Foto: Verleih)

Mit seiner dunklen Showbiz-Satire "Birdman" könnte Alejandro González Iñárritu bei den Oscars abräumen. Ausgerechnet Ex-"Batman" Michael Keaton spielt darin ein Opfer des Superheldenkinos, das es noch einmal wissen will. Das gibt der Sache biografischen Wumms.

Von Tobias Kniebe

Immer dann, wenn Riggan Thomson an einem Tiefpunkt angekommen ist, dröhnt plötzlich diese tiefe Stimme in seinem Kopf. Einmal zum Beispiel wacht er in der Gosse auf, elend und schwer verkatert, den Kopf auf einen stinkenden Müllsack gebettet, und schon geht es los.

"Gott", sagt die Stimme. "Du siehst übel aus, Bruder. Los, aufstehen! Schon wahr, du bist kein großer Schauspieler. Na und? Du überragst diese Theaterluschen doch um Längen. Du bist ein Filmstar, Mann, eine Weltmarke! Kapierst du das nicht?"

Und Thomson steht auf, und es ist schon erstaunlich, wie schonungslos der lang verschollene, alt gewordene, jetzt endlich wiederentdeckte Michael Keaton sich hier selbst entblößt: Faltig und fleckig die Haut, räudig das schüttere Haar. So stakst er im zerknitterten Trenchcoat durch Manhattan, und auf einmal ist da ein Mann im schimmernden schwarzen Vogelkostüm hinter ihm, und jetzt spricht die Stimme durch dessen Raubvogelmaske.

"Du hast dir einen Ruf erarbeitet, Buddy, und ein Vermögen. Jetzt ist beides weg. Na und? Fuck it. Sie erwarten noch Großes von uns! Also rasier diesen lächerlichen Ziegenbart ab, lass dich operieren! Du bist das Original, Mann. Gib den Leuten, was sie wollen: guten, alten, knallharten Apokalypseporno, bis die Teenies sich einscheißen. Eine Milliarde Dollar weltweit, garantiert! Alles, was du tun musst, ist . . ."

Der Drang, etwas anderes zu finden

Und in diesem Moment schnippt Thomson, der mit jedem Wort größer und aufrechter und entschlossener wirkt, mit den Fingern, und neben ihm auf der Straße gibt es eine Explosion, und dann geht wirklich eine Blockbuster-Apokalypse los, mit Sturmtruppen und Helikopter-Crash und Bordkanonen auf Dauerfeuer und feindlichem Monsterwesen auf dem Dach. Nur um dann, so plötzlich wie sie erschienen ist, wieder weg zu sein.

Denn "Birdman" von Alejandro González Iñárritu, in Venedig Eröffnungsfilm, aktuell für neun Oscars nominiert, versucht eine Art Entziehungskur. Er schickt seine Hauptfigur Riggan Thomson - einen ehemaligen Superhelden-Darsteller, den Mann, der einst "Birdman" war - in ein beinah faustisches Fegefeuer.

Denn die Egotrips und Allmachtsphantasien, die Riesenschecks und die globale Aufmerksamkeit, den ganzen dolbywummernden Sound des Apokalypsepornos, der unsere Bildphantasie dominiert, kennt dieser Thomson nur allzu gut. Mindestens so gut wie sein Darsteller Michael Keaton - der Mann, der einst "Batman" war. Das gibt der Sache noch mal extra biografischen Wumms.

Das Ding aber ist: Thomson hat genug. Schon lange. Den Einflüsterungen seiner Superhelden-Stimme zum Trotz, die ihn mephistophelisch begleitet, will er etwas anderes, Besseres, Echteres finden. Wie fast jeder im Filmgeschäft. Wie selbst jene, die aktuell die ganzen Blockbusterfilme runterkurbeln, einen nach dem anderen.

Die Schizophrenie im Herzen Hollywoods

Der Mann mag schizophren sein, aber seine Zerrissenheit ist nichts anderes als die ewige Schizophrenie im Herzen Hollywoods. Wenn also die Oscar-Academy, die nichts mehr liebt als solche Selbstbespiegelungen, "Birdman" dafür zum besten Film des Jahres erklärt - dann genau aus diesem Grund. Das ist schon sehr geschickt.

Die Vorgeschichte handelt davon, dass Thomson, genau wie Keaton, eines Tages rauswollte aus dem Superheldenkostüm. Er wollte sich selbst wieder finden, als Künstler, als Träumer, als Mensch, als Vater, als Mann. Und ist dabei fast in Vergessenheit geraten und in den Augen der Welt gescheitert, genau wie Keaton auch.

Weshalb er nun nicht weniger als eine schauspielerische Wiedergeburt versucht, und zwar dort, wo es am härtesten ist - am Theater in New York. Eine hochambitionierte Raymond-Carver-Adaption will er auf die Bühne bringen, die ganze Produktion hat er selbst finanziert, mit seinen letzten Mitteln, und wenn die Theaterwelt ihn nun nicht ernst nimmt, hat er gar nichts mehr.

Nur ist die New Yorker Theaterwelt, auf ihre ganz eigene, streng codierte und hochprätentiöse Weise, mindestens genauso abgefuckt wie das Superheldenkino - allein die Miniatur, die sich der allmächtigen, hasserfüllten, sich liebevoll ihren Vorurteilen hingebenden Chefkritikerin der New York Times (Lindsay Duncan) widmet, ist ein kleines böses Juwel.

Ein Mann also zwischen Pest und Cholera: Als wahrhaft Geschlagener und Getriebener stolpert Thomson voran, und keine Demütigung wird ihm erspart bleiben.

Im wahren Leben will ihm nicht einmal eine Erektion gelingen

Aber er ist nicht allein. Auch die Nebendarsteller sind hier mit einer Liebe gezeichnet, die im Kino selten geworden ist. Mike Shiner etwa, der gefeierte Theaterstar, den Thomson anheuert, um neben ihm auf der Bühne zu glänzen - Edward Norton spielt ihn brillant als einen Wahrheitsfanatiker, der auf den Theaterbrettern nicht die geringsten Hemmungen kennt; im wirklichen Leben allerdings will ihm nicht einmal eine Erektion gelingen.

Oder Sam, Thomsons junge Tochter, die er als Assistentin angeheuert hat, hauptsächlich um sie von den Drogen wegzubringen - Emma Stone verankert den Film in der Gegenwart und in der Facebook-Welt, in der Thomson ein Nichts ist, was sie ihm auch gern ins Gesicht sagt.

Zugleich aber verleiht sie dieser Figur ein so herrlich trotziges Eigenleben, dass man ihre Szenen bald geradezu herbeisehnt - genau wie das frivole "Wahrheit oder Pflicht"-Spiel, das sie mit dem zögerlichen Shiner beginnt. Auch diese beiden sind, wie Keaton, für einen Oscar nominiert.

Gepackt vom Herzschlag der drohenden Katastrophen

Dazu, nicht weniger liebevoll entworfen, gibt es noch Momente mit der Geliebten, der Exfrau, der Hauptdarstellerin sowie dem Produzenten, der zugleich Thomsons Anwalt und bester Freund ist. Gemeinsam zeichnen sie ein drastisches Bild von Thomsons Schwächen, Ängsten und Missetaten, jeder von ihnen bringt aber auch seine eigenen Probleme mit.

So herrscht ein ewiges Kommen und Gehen in den Garderoben und Katakomben des Theaters, in langen, ungeschnittenen Einstellungen, und die Kamera folgt den Darstellern einfach auf die Bühne und wieder herunter, als wäre alles nur ein einziger, endloser Take.

Am Anfang wirkt das recht hektisch - man muss sich schon anstrengen, um überhaupt alles mitzukriegen. Bald aber hat einen der Herzschlag des Lampenfiebers und der drohenden Katastrophen gepackt. Gerade wenn alles in völliger Auflösung begriffen ist, beharren Alejandro González Iñárritu und sein Kameramann Emmanuel Lubezki auf ihren genau kalkulierten Einstellungen.

Der Held muss ganz auseinanderfallen, bevor er sich wieder zusammensetzen darf

Bis aufs Blut gequält wird schließlich aber doch nur Riggan Thomson selbst - bis hin zu jener Zigarette bei laufender Vorstellung, als die Feuertür hinter ihm zufällt und seinen Bademantel einklemmt. So bleibt ihm nur die Flucht nach vorn in der Unterhose, ganz außen herum über den Times Square, an tausend gezückten Smartphones vorbei.

Ein Held, der bis auf die Knochen entblößt wird, der ganz auseinanderfallen muss, bevor er sich wieder zusammensetzen darf - ist das nicht immer schon ein Ideal des Erzählens? Michael Keaton jedenfalls stürzt sich in diesen Abgrund hinein, als ob es keine Rettung gäbe - und diese Bedingungslosigkeit ist es, die ihm am Ende Flügel verleiht.

Eine drängende Frage aber bleibt: Propagiert der Film selbst jenen harten, gut abgehangenen Theaterrealismus, in dem Thomson seine Rettung sucht? Will er ihn gar als Gegenmittel anpreisen gegen den grassierenden Superheldenwahn, der einmal wirklich als "kultureller Genozid" bezeichnet wird? Schon wahr, das Finale könnte man so verstehen - aber damit würde man "Birdman" Unrecht tun.

Denn dafür sind auch die Bühnenszenen zu verschwitzt und pathetisch, zu nah an der Lächerlichkeit inszeniert - und dafür ist der Film zu schlau. Viel eher geht es darum, dem Wahnsinn ins Auge zu blicken, den Stimmen im eigenen Kopf zu lauschen - und dann trotzdem genau das zu tun, was niemand mehr von einem erwartet.

Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance), USA 2014 - Regie: Alejandro González Iñárritu. Buch: Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Jr. Armando Bo. Kamera: Emmanuel Lubezki. Mit Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Zach Galifianakis, Amy Ryan. Fox, 119 Min.

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